Kapitel Zehn

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Bevor das Volk ausgetauscht wird, sollte man die Politiker austauschen.

Jörg Haider

Ich weiß gar nicht, wie ich reagieren soll. Es würde mit Sicherheit nicht sofort auffallen, da wir uns zumindest optisch so sehr ähneln, aber ich, die sich nicht einmal die Beine rasieren kann, ohne ein Blutbad anzurichten, soll mein normales Leben gegen ein Leben in den noblen Kreisen East Citys eintauschen? Ob das wirklich so eine gute Idee ist?
«Du sagst ja gar nichts.» Alex mustert mich besorgt. «Wahrscheinlich würde es sowieso auffallen, also lassen wir es gleich bleiben, oder?»
Auf meinen Schultern scheinen ein Engelchen und ein Teufelchen zu sitzen, die mich über die Pro- und Contra-Argumente von Alex' Vorschlag belehren.
Während das Teufelchen ein wahrer Egoist ist und nur dahingegend argumentiert, dass ich hier mein solides und sicheres Leben nicht aufgeben soll, versucht mich das Engelchen zu überzeugen, dass ich Alex von ihrem Leiden erlösen sollte.
«Lass es uns versuchen.» Ich sehe ihr ernst in die Augen, um ihr klar zu machen, dass ich es auch wirklich so meine, wie ich es sage.
«Echt?» Mit geweiteten Augen blickt sie mich an, sie kann es kaum fassen.
Ich nicke. «Ja, es kann doch nicht mehr schief gehen, als dass wir auffliegen.» Mit einem Zwinkern möchte ich die angespannte, erste Situation etwas auflockern.
«Danke!» Sie fällt mir um den Hals und ich bekomme kaum noch Luft.
Lachend erwidere ich die Umarmung und löse mich wieder. «Gerne.»

Wir beschließen, dass ich morgen früh zur Mauer gehe und in Alex' Namen zurück nach East City kehre.
Alex dagegen wird mich in der Schule vertreten.
Ich kann es kaum glauben, das ich das Ganze tatsächlich mache.
Während ich leise etwas Essen für Alex auf einen Teller stapele, damit sie nicht hungrig schlafen gehen muss, beginne ich zu zweifeln. Was ist, wenn man mich sofort entlarvt? Man wird doch merken, dass mein tollpatschiges Verhalten nicht mit Alex' vornehmen Benehmen gleichgesetzt werden kann.
«Was machst du da?», erklingt eine Stimme hinter mir.
Ich fahre herum und lasse fast den Teller fallen.
Lucas steht vor mir, bereits im Pyjama und sieht mich neugierig an.
«Ich hab Hunger», antworte ich schlicht.
«Hast du nicht vorhin beim Abendessen erst zwei Teller Nudeln verdrückt?» Misstrauisch mustert er, was sich alles auf dem Teller befindet: ein Jogurt, eine Banane, ein mit Salami belegtes Brot und ein Schokoriegel.
«Das bedeutet nicht, dass ich nicht jetzt schon wieder Hunger haben kann.» Achselzuckend stelle ich den Teller auf den Tisch. «Komm mal her.» Ich strecke die Arme nach ihm aus und ziehe ihn in eine Umarmung. Wenn ich ihn heute zum letzten Mal sehen sollte, möchte ich mich wenigstens von ihm verabschieden.
«Hey», protestiert er. Wer weiß, wann wir uns zum letzten Mal umarmt haben. «Was ist denn los mit dir?»
«Ich hab dich lieb, Luc.» Ohne auf seine Frage einzugehen, rede ich einfach weiter. «Ich wollte nur, dass du das weißt.» Dann schnappe ich mir Alex' Essen und verschwinde damit in meinem Zimmer.
Ehe ich ihr das Essen besorgt habe, war ich für ein paar Minuten bei meiner Schwester Claire im Zimmer, die bereits friedlich geschlafen hat, als ich den Kopf ins Zimmer gesteckt hatte. Meine Mutter habe ich leider nicht mehr erwischt, sie arbeitet heute Nachtschicht in der nahen Papierfabrik.
Es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ich sie vielleicht nie wieder sehe.
Irgendwann, nachdem Alex ihr Essen förmlich verschlungen hat und wir uns beide bettfertig gemacht haben, falle ich in einen traumlosen Schlaf.

Als die Morgensonne durch meine Vorhänge dringt, weiß ich, dass es so weit ist sich zu verabschieden. Ich stehe auf, wecke Alex und ziehe mich rasch an, damit ich verschwinden kann, noch bevor meine Geschwister aufwachen. Meine Mutter müsste erst in eineinhalb Stunden nach Hause kommen.
Ich habe Alex' Klamotten vom Vortag an, wohingegen sie ratlos vor meinem Kleiderschrank steht.
«Ich bin ja eigentlich nicht wählerisch», sagt sie, «aber andere Kleidung hast du nicht?»
«Stimmt was nicht?», frage ich, während ich ihre Brille auf meiner Nase positioniere und meine Augen sofort beginnen zu tränen. Die Brille lasse ich lieber bleiben.
«Ist das alles Secondhand?» Sie hält meine karierte Lieblingsbluse und eine zerschlissene Jeans in der Hand.
Ich nicke nur. «Ja und?»
Sie zieht geräuschvoll die Luft ein. «Okay, kein Problem, daran werde ich mich bestimmt gewöhnen.»
«Bestimmt», murmele ich. «Ich muss jetzt los.» Mein Magen fährt Achterbahn bei dem Gedanken, dass ich womöglich, wenn ich mich der Mauer nähere, festgenommen werden und zu Alex' Eltern gebracht werden könnte.
«Viel Glück», wünscht sie mir und umarmt mich zum Abschied.
«Dir auch», antworte ich ehrlich. Irgendwie zweifle ich tatsächlich daran, dass sie sich in meiner Welt zurecht finden wird.
Und dann gehe ich auf direktem Weg zur Mauer, ohne mich umzudrehen. Woher ich den Mut nehme, ist mir selbst kaum bewusst, aber ich fürchte, wenn ich zurückstehen würde, würde ich stehen bleiben und mich nicht mehr trauen mit Alex die Rollen zu tauschen. Ich muss es besser machen als Orpheus, ich darf mich nicht noch einmal umdrehen, sonst riskiere ich, alles zu verlieren.
Plötzlich sehe ich sie. Die Mauer, die Grenzpolizisten, heute sind besonders viele von ihnen vertreten, wahrscheinlich wegen Alex' Flucht.
Einer von ihnen kneift die Augen zusammen und sieht mich genau an.
Dann gibt er zwei seiner Kollegen ein Zeichen und alle drei kommen sie auf mich zu.
Meine Knie werden weich.
«Alexandra Murphy, sie sind festgenommen.»


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