Kapitel 11

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Seit dem Tag als Julia wortlos das Zimmer verlassen hatte und Doktor White mir gesagt hatet, dass ich nie mehr laufen könne, ist einige Zeit vergangen, in der sich nicht viel verändert hat.

Julia hat sich noch nicht wieder gemeldet, was ich nicht verstand.. Wenn sie meine Mum ist, sollte sie hier sein, jeden Tag und nicht nur alle vier Wochen, wenn sie Lust dazu hatte, ihre verkrüppelte Tochter zu sehen. Ich war wütend und verletzt von ihr. Doktor White wusste auch nichts und konnte sie auch nicht erreichen. Er versuchte es fast jeden Tag. Von meinem Vater hatte ich noch gar nichts gehört. Gibts den überhaupt?

Also verbrachte ich langweilige Tage im Krankenhaus, die immer noch geprägt waren von Untersuchungen und seit Neustem auch Krankengymnastik, um heraus zu finden, ob meine Beine wirklich zu nichts mehr taugten.

Mein Wald sah inzwischen ziemlich trostlos aus. Die schönen, gelb-roten Blätter wurden braun und fielen auf den Boden, sodass nur noch Skelette vor meinem Fenster zu sehen waren.

Ich hatte inzwischen das titellose, schwarze Buch gelesen. Es war eine Liebesgeschichte zwischen einem Mädchen von heute und einem Jungen aus der Zukunft, die ein unerwartet trauriges Ende hatte. Mir gefiel das Buch sehr und ich lese es nochmal. Vielleicht auch auf Mangel an Auswahl... Erinnerungen hatte es allerdings nicht wach gerufen, obwohl mein früheres Ich wahrscheinlich begeistert gewesen wäre. Wünscht sich nicht jeder, seine Lieblingsgeschichte nochmal zum ersten Mal zu lesen? Wenn es unter anderen Umständen gewesen wäre, ich wäre begeistert gewesen...

Auch in die Musik auf dem IPod hatte ich reingehört, aber die gefiel mir nicht. Oder wahrscheinlich nicht mehr. Es waren viele langsame und anscheinend ältere Balladen, gemischt mit deutschen Balladen und sogar etwas Kirchenmusik. Wahrscheinlich hatte jedes Lied seine persönliche Geschichte, weshalb ich die Lieder und vorallem ihre Bedeutung nicht verstand. Naja, inzwischen war der Akku leer und ich fand kein Ladekabel.

Ich hatte mich weder an die Fotos getraut, noch an das Notizbuch. Es erschien mir als würde ich heimlich etwas angucken, was mir nicht gehörte. In gewisser Weise war dem ja auch so...

Also fristete ich mein Dasein und langweilte mich weiter. Die meiste Zeit war ich allein in meinem Zimmer, weil Doktor White meinte, es wäre besser für mich, aber ich machte immer öfter heimliche Ausflüge durch meinen Flur mithilfe von Schwester Zoe, mit der ich mich verbündet hatte. Wenn Doktor White weg war, holte sie einen Rollstuhl und ließ mich eine Stunde die Gegend erkunden. Sonderlich spannend war es nicht. Die meisten Leute waren älter, niemand in meinem Alter. Und die meisten hatten kein Interesse mit mir zu sprechen...

Das änderte sich jedoch an einem Nachmittag an dem Doktor White eine OP hatte und Zoe mir wieder zur Flucht verholfen hatte. Ich fuhr über den Flur und wurde plötzlich von hinten angeschoben, bis ich beinahe vor einer Wand landete. Geschockt und wütend drehte ich mich um und entdeckte einen Jungen, den ich nie zuvor hier gesehen hatte, hinter mir stehen und lachen.

"Das findest du lustig, was? Mich hier fast durch die Wand zu befördern. Ich hatte nicht vor hier länger  zu bleiben, als unbedingt nötig!", schrie ich ihn an. Eine Tür neben uns flog auf. Eine Frau streckte ihren Kopf heraus, machte "Psssst" und knallte die Tür zu. Zoe kam um die Ecke um zu sehen, ob alles in Ordnung, verschwand aber sofort wieder, weil sie von irgendwem angesprochen wurde. Der Junge hinter mir lachte immernoch. Ich drehte mich nun ganz zu ihm um und schaute ihm wütend ins Gesicht, was angesichts des Größenunterschieds relativ schwierig war und bestimmt nicht den gewünschten Effekt hatte. Da er nicht darauf reagierte, rollte ich mit ziemlichem Tempo an ihm vorbei in Richtung Zoe, um ihr zu sagen, dass ich zurück in mein Zimmer wollte. Ich wollte in Ruhe in meine Kissen schreien, wie ich es oft in letzter Zeit tat. Es war die einzige Möglichkeit hier, seine Gefühle rauszulassen ohne auf die psychiatrische Station verlegt zu werden. Ich war fast angekommen, als sich mir zwei Beine in den Weg stellten. Als ich ausweichen wollte, ging er einfach ein Schritt nach rechts. Ich hasste diesen Rollstuhl jetzt schon...


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