♥ 3

8.1K 981 149
                                    

Jeden Abend schwöre ich mir, dass ich sie anspreche. Und das geht monatelang so. Ich ließ bei meinem ersten Besuch im MoonHour aus Versehen ein Glas mit Kleingeld herunterfallen und ab diesem Zeitpunkt ... Ich bin nicht so romantisch veranlagt, dass ich an die große Liebe glaube. An Liebe auf den ersten Blick.

Doch sie war meine große erste Liebe auf den ersten Blick.

Die Barista ohne Namen, die jeden Abend über meine Bestellung lächelt. Und für dieses Lächeln lebe ich. Es ist mir egal, wie umständlich es ist, jeden Abend zu sagen, was ich möchte. Denn wenn sie im Gegenzug die Mundwinkel nach oben zieht, ist es das wert.

Auch heute läuft unser Ritual gleich ab.

»Einen Coffee-to-Go und einen Vanille-Cupcake mit Kirsche, bitte.«

»Kommt gleich«, sagt sie und wischt sich eine Strähne zurück hinter ihr Ohr. Ihre Haare brauchen einen neuen Schnitt, sie verfangen sich ständig in ihrem Gesicht. Das will ich ihr sagen. Das werde ich ihr sagen. Heute ist nämlich der Tag. An dem ich endlich endlich endlich mit ihr sprechen werde.

»Danke«, sage ich, als sie mir meine Bestellung reicht.

Und ich mich mit einem Lächeln auf meinen gewohnten Platz niederlasse.

Feigling, ruft meine innere Stimme, die seltsamerweise wie Jan klingt.

Selber, erwidere ich und bin versucht, mir selbst im Geist die Zunge herauszustrecken.



Als Jan mit Krebs diagnostiziert wurde, besorgte er uns beiden scrapbooks. Wir sollten unsere Gedanken hineinschreiben. Sie herausreißen können. Neue hinzukleben. Erinnerungsstücke sammeln. Es sollte ein Bildnis werden. Sein Überlebenskampf sollte dokumentiert werden.

Und es hilft mir. Es macht mich ... glücklich. Selbst wenn ich denke, dass ich nicht mehr glücklich sein kann.

Und ich arbeite am liebsten daran, wenn ich in ihrem Café bin. Und die Ruhe genießen kann. Es befinden sich unheimlich viele Kaffeeflecken in dem Notizbuch. Und genau das macht es zu etwas besonderem.

Da das Café unweit vom Krankenhaus entfernt liegt und ich seit jeher ein Nachtmensch bin, erkundigte ich die Gegend nach einem Besuch bei Jan. Ich wollte Kaffee. Viel davon. Und dann war da dieser hellerleuchtete Laden mitten im Dunkel der Nacht.

Es war mein Licht.



Ich werfe einen Blick zu der Barista, als sie nicht hinsieht. Sie putzt die Arbeitsfläche hinter der Theke und hat mir den Rücken zugewandt.

Sie ist schön.

Sie ist nicht schön, wie Models und Schauspieler schön sind.

Sie ist schön, weil sie echt ist.

In meiner Welt, in dem Universum der Ex-Filmstars und Ex-Promis und Schönheitschirurgen gibt es keine Echtheit. Alles ist Plastik und Unecht und Falsch.

Sie ist nicht falsch. Sie ist real.

Und vielleicht ... wenn ich mich je traue ... vielleicht kann sie mir zeigen, wie man echt ist. Wie es sich anfühlt, wenn man nicht den ganzen Tag vorgibt, jemand zu sein, der man nicht ist.


Everyday at 9PM (I want to see you)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt