Nichts zu verlieren

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Vanessas Sicht
Ich gehe heute nicht nach Hause. Interessiert doch eh keinen ob ich da bin. Meine Faust knallte gegen die Wand bei dem Gedanken daran was gestern passiert war. Als ich von der Schule nach Hause kam hörte ich aus unserer Wohnung Geschrei. Ich dachte es wäre ein üblicher Ausraster meiner Mutter, bis ich hörte das es eine Männer Stimme war. Adrenalin überkam mich und ich rannte die Treppe hoch, bis ich endlich im 5.Stock war. Die Tür stand offen, ohne viel nachzudenken stürmte ich hinein. Die Küche war ein volkommenes Chaos, auf dem Boden lagen Töpfe, Besteck und ein zerbrochener Teller. Ich musste Lea finden! Ich rannte in ihr Zimmer, immerhin war das ordentlich, selbst ihr lieblings Kuscheltier lag ordentlich auf ihrem pinken Bett. Doch sie war nirgends zu sehen. Das Gebrüll hörte nicht auf, es war agressiver geworden, was er genau sagte war nur noch verschwommen in meinen Erinnerungen, denn ab da überkam mich so etwas wie ein elektrischer Schlag, der durch meinen ganzen Körper ging. Im Wohnzimmer sah ich es dann. In der einen Ecke meine völlig verängstigte Mutter, mit verheulten Panda Augen. Sie starrte den Mann an der in der Mitte des Raumes stand, in der einen Hand hatte er eine leere Bierflasche und mit der anderen Hand hatte er Lea am Arm gepackt. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln und sein weißes Hemd hatte einen schweiß-Fleck. Und dann schrie ich. Ich schrie so laut, alles von meiner Seele was nur ging. Der Unbekannte ließ seine Flasche fallen, aber Lea hielt er noch immer fest. Sie stand nur da, die Augen voller Tränen und zu geschockt um etwas zu sagen. Mittlerweile hatte er sich wieder gefasst und holte aus um mir eine Backpfeife zu geben. Doch ich war ein Schritt weiter als er und bin ausgewichen als er seine Hand durch die Luft sausen ließ. Blind vor Wut starrte er mich an. Ich konnte nicht anders und spuckte ihm ins Gesicht. Ich hörte Sirenen und konnte nur hoffen, dass die Nachbarn die Polizei gerufen haben.
Ich ballte meine Faust und schlug ihm in sein Gesicht. Er schrie wütend auf und endlich ließ er Lea los um mich zu packen. Ich trat ihm in sein Allerwertesten und wand mich aus seinem eisernen Griff. "Du verdammte Hure!" schrie er mich an und krümmte sich vor Schmerz. Er roch nach Alkohol und Zigaretten. Ich musste fast würgen, doch dann hörte ich endlich wie die Polizisten in unser Haus stürmten. Sie rannten in das Wohnzimmer und sahen sofort was passiert war, sie nahmen den Mann der weiterhin schrie. "Scheiß Fotze!" Ich ignorierte ihn, wollte nur noch wissen wie es Lea geht und wo sie jetzt ist. "Meine Schwester, irgendwo muss sie sein sie ist erst 9!" rief ich. Ein Polizist nahm den Helm ab und ich erkannte, dass es eine Frau war. "Darum kümmern sich meine Kollegen, keine Angst es wird ihr gut gehen."
"Wo wird sie hingebracht? Was passiert mit ihr?" fragte ich angespannt. "Also erstmal kommt sie ins Krankenhaus, wer weiß was der Irre mit ihr gemacht hat, deine Mutter hat außerdem einen ziemlichen Schock erlitten. Sie hat warscheinlich ein Trauma und muss auch erstmal ins Krankenhaus und braucht Beruhigungsmittel..."
"Nein, gebt ihr keine. Das bringt nichts, sie hatte schon so oft welche..." fing ich an. Doch sie hörte mir nichtmal zu "Du und deine Schwester müssen jetzt nach der ganzen Sache sowieso in ein Heim, das Jugendamt muss sich erstmal anschauen ob deine Mutter überhaupt fähig ist euch zu erziehen und so."
Alles drehte sich in mir. Ich wollte nicht ins Heim! Ich würde bestimmt nichtmal mit Lea in dasselbe Heim kommen! Was sollte ich denn da machen?! Ohne zu überlegen rannte ich aus der Wohnung. Weg. Ich musste einfach nur weg. Ich hörte nur noch ein "Halt!" doch ich ignorierte es. Ich wollte nicht mehr da sein.

Zurück in der Wirklichkeit sah ich mir an was ich angerichtet hatte. Durch den Schlag gegen die Wand blutete meine Faust, aber ich spürte es nicht. Die Sonne ging langsam unter und ich wusste nicht was ich tun sollte. Was ich überhaupt jemals tun kann. Ich griff in meine Tasche und holte ein wenig Geld raus, was ich immer dabei hatte, nur für den Notfall, man weiß ja nie. Und das gerade war ein Notfall. Am Ende der Straße war eine Tankstelle die ich schon seitdem ich 11 Jahre alt war kannte. Jedes Kind in dem Viertel kannte sie. Denn dort bekam man alles. Egal wie alt man war, die Verkäufer interessierte es nicht. So kam es, dass ich mit 14 mich das erstemal richtig vollaufen ließ und vor Angst Lea zu erschrecken wenn ich nach Hause kam, hab ich auf irgendeiner Parkbank meinen Rausch ausgeschlafen um am nächsten Morgen zu kommen und ihr zu erzählen ich wäre bei einer Freundin gewesen. Als ich in dem Laden kam, war alles beim alten. Die Alkoholischen Getränke waren in derselben Kühltruhe. Die zweite rechts. Der Kassierer war immer noch derselbe, und zwar der alte James, der immer auf seinem Menthol Kaugummi kaute. Er begrüßte mich mit einem Kopfnicken und verabschiedete mich mit einem "Bis zum nächsten mal." Ob es ein nächstes Mal geben wird?

Ich ging mit einer Wodka Flasche raus, hatte meine Kapuze tief in mein Gesicht gezogen und blickte zu Boden. Mittlerweile regnete es in Strömen. Es war eiskalt und ich zitterte am ganzen Körper. Meine Zähne klapperten und erzeugten so ein komisches Geräusch. Mein Ziel war die Autobahnbrücke. Wie so oft stellte ich mich dort oben hin und zählte die Autos die unten lang rasten. Währendessen nahm ich immer wieder Schlucke aus der Flasche. Die Autolichter verschwammen immer mehr vor meinen Augen. Normalerweise half diese Methode alles still zu machen. All die Gefühle zu unterdrücken und verstummen zu lassen. Aber es war heute einfach anders. Es tat einfach alles so weh, es war einfach alles aufeinmal. Zu viel. Viel zu viel.

Aber letzendlich war ich diejenige die an allem Schuld war. Ich habe es nicht geschafft gut genug auf Lea aufzupassen, man hat sie mir genommen. Mein Vater ist gestorben und hätte ich nicht darauf bestanden unbedingt zu diesem Park zu fahren wäre er noch am Leben. Pia hatte mich verlassen und war stattdessen zu einer anderen gegangen. Ich bin ein Versager.

Ich habe nichts und niemanden verdient. Ich brauche nichts und niemanden. Ich bin nur ich. Allein.

Es wurde mir klar, ich hatte nichts mehr zu verlieren.

Wäre es nicht viel leichter einfach aufzugeben?

Wäre ich dann endlich frei?

Es gibt viele Ansichten von Leben. Jeder hat eine andere Definition davon. Es ist wie ein Gebäude, das jeder Mensch von seinem Lebensanfang an bauen muss. Die Gesellschaft versucht einen davon zu überzeugen, dass sie es genau richtig bauen würden und das alle es nur genauso und nicht anders bauen sollten. Jeder Mensch fängt an es zu bauen und jeder wird am Ende fertig. Manche früher und manche später. In den Augen von anderen mag dein Gebäude vielleicht hässlich und kümmerlich erscheinen, doch es ist dein eigenes. Alles daran hast du ganz allein gebaut. Auch wenn andere versuchten dich zu beeinflussen und von deinem eigentlichen Bauplan ablenkten, letzendlich warst du es der sich entschied ob der Stein dorthin gesetzt wird.

Mein Gebäude ist fertig gebaut. Das ist mir mittlerweile bewusst, und es bringt rein gar nichts es weiter zu versuchen, die Wände sind angestrichen und tapeziert. Ich habe dort nichts verloren, ich, der Architekt habe meinen Job getan.



Genauso wie du || GirlxGirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt