Lerry ging die Stufen zu den Schlafzimmern nach oben. Eine dreiviertel Stunde hatte sie jetzt Mittagspause, die sie dringend nutzen musste. So viele Male hatte sie schon überlegt die ganze Sache abzubrechen. Doch das konnte sie nicht. Das wusste Lerry jetzt. Sie musste es tun. Für ihn.
Der Flur war leer. Die meisten Schüler waren in den Aufenthaltsräumen, der Bibliothek oder der Esskantine. So wie immer. Menschen lieben Gewohnheiten und hassen Veränderungen. Das wurde Lerry zum hundertsten Mal klar. Sie liebten es, wenn alles ihren gewohnten Gang ging und möglichst nichts unvorhergesehenes geschah. So waren die Menschen. einfach zu durchschauen. Einfach zu spielen. Und es war einfach sich anzupassen, denn viele Erwartungen wurden nicht gestellt. Man musste brav sein, fleißig lernen und sich ansonsten still verhalten. Das tat Lerry seit vielen Jahren. Nicht erst seit sie in diesem Internat war, nein. Schon ihr Leben lang.
Für Lerry war es keine Kunst sich unsichtbar zu machen, das konnte sie im Schlaf. Die Stille und die Einsamkeit waren ihre Freunde. Und das Wasser. Und natürlich Lincoln.
Während sie die Treppen nach oben stapfte, dachte sie über sich und Lincoln nach. Sie passten perfekt zusammen. Er mit seinen schwarzen, kurzen Locken, und sie mit ihren ebenfalls schwarzen, aber langen Haaren, welche ihr glatt bis zur Taille fielen. Sie waren beide außergewöhnlich. Ihr Verhalten war fast identisch mit dem des anderen. Sie waren Seelenverwandte.
Eine Schülerin kam Lerry entgegen und riss sie aus ihren Gedanken. Sie sagte nichts, schaute sie nicht mal an. Doch Lerry störte das nicht, denn genau das wollte sie erreichen. Sie wollte unsichtbar sein. undurchdringbar. Undurchschaubar.
Es war nicht so, dass Lerry keine Persönlichkeit oder kein Selbstvertrauen hatte. Im Gegenteil, davon hatte sie sogar sehr viel. Doch das hob sie für sich auf. Sie wollte es nicht verschwenden, an Menschen mit denen sie nichts zu tun hatte. Sie hob es auf für Menschen wie Lincoln, dem sie etwas bedeutete und der ihr etwas bedeutete. Lincoln war ihr Leben. Sie war besessen von ihm und Tagsüber wenn sie in ihrem Zimmer saß, dachte sie nur an ihn. An die nächste Nacht. Und an den Kuss.
Lerry schloss ihre Zimmertür auf und schlüpfte hinein. Ihr Zimmer war klein. In der Ecke stand ein Schreibtisch und ihm Gegenüber ein Bett. Daneben ein Hocker, auf dem die Nachttischlampe und der Wecker standen. Eine unauffällige Tür verbarg einen Wandschrank in dem ihre Kleider ordentlich auf drei Haufen lagen. Ansonsten war das Zimmer leer. Die Wände waren weiß, wie auch die schweren Vorhänge vor dem Fenster.
Lerry liebte ihr Fenster. Es offenbarte ihr das Tor zur Freiheit. Wenn sie auf die große Wiese unter ihrem Fenster schaute, den Wald und zwischen den Zweigen der großen Tannen den See glitzern sah, wurde ihr schwer ums Herz. Es krampfte sich zusammen um ihr zu sagen wie sehr es sich weg sehnte. Weg von der Schule. Weg von den Menschen.
Doch sie musste sich noch gedulden, das war ihr bewusst. Sie ließ sich auf das Bett fallen. Und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie vermisste Lincoln. Sie wollte ihn sehen. Ihn fühlen.Lerry unterdrückte einen Schluchzer. Sie musste sich zusammenreißen.
Als die Schulglocke ertönte, erhob Lerry sich und schlüpfte aus dem Zimmer, nicht ohne es abzuschließen. Auf dem Weg zu den Klassenzimmern begegneten ihr hektische Schüler, die noch Hefte oder Ordner aus ihren Zimmern holen mussten. Lerry ließ sich nicht aus der Ruhe bringen als sie versehentlich geschupst wurde und hinfiel. Sorgsam sammelte sie ihre Blätter ein und stand wieder auf. Niemand kümmerte sich um sie. Doch das war es was sie wollte. Unsichtbar sein.
Als Lerry in den Chemiesaal kam, war noch fast niemand da. Sie setzte sich in die hinterste Reihe und breitete ihre Hefte und losen Blätter vor sich aus. Lerry hasste Chemie. Sie mussten immer Gruppenarbeiten machen, was ihr gar nicht gefiel. Doch letztes Jahr war ein Schüler aus ihrer Klasse gegangen, weshalb sie jetzt alleine arbeiten konnte- weil die Klasse jetzt nur noch aus 27 Schülern bestand.
Nach und nach füllten sich die Sitzplätze und der Unterricht begann. Die Lehrerin redete über chemische Reaktionen und zum Schluss mussten sie irgendeine Säure in eine andere kippen um zu sehen was geschah. An diesem Tag passierte es das erste mal in ihrem Schulleben, dass Lerry nicht bei der Sache war. Sie war in Gedanken versunken und konnte sich nicht konzentrieren.
Als der Unterricht endlich vorbei war, eilte Lerry zu ihrem Zimmer. Der Unterricht war für heute vorbei. Sobald sie die Tür abgeschlossen hatte, riss sie ihren Schrank auf und stopfte ihre Kleider in einen Rucksack. Ihre Schulbücher stapelte sie ordentlich auf den Schreibtisch. Sie schüttelte ihr Bettzeug aus und lüftete das Zimmer. Sie saß auf der Fensterbank und schaute auf den Park hinab, als es an der Tür klopfte. Sie reagierte nicht. Jeden Tag um diese Zeit klopfte jemand. Doch Lerry hatte noch nie die Tür geöffnet.
Sie atmete tief, die frische Luft ein, die vom See herüber wehte und seufzte. Alles würde sich ändern, da war sie sich sicher. Schon ganz bald würde sie ein anderer Mensch sein. Sie wusste nicht was für ein Mensch sie werden wollte. Aber auf jeden Fall anders. Vielleicht würde sie berühmt werden. Politikerin oder Schauspielerin? Sie wusste nicht welche Richtung sie einschlagen wollte. Aber sie wusste mit wem.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir das Kapitel nicht so gut gefällt, weshalb ich mich sehr über Kommentare oder Kritik freuen würde!!!!!! Eure RainFlame PS: Ich werde es vermutlich nochmal bearbeiten;)
Status: Bearbeitet
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Drown
AdventureLerry ist anders. Sie ist eine Einzelgängerin. Still. Und hat keine Freunde. Tagsüber ist sie in ihrem Zimmer. Niemand weiß was sie dort tut, und eines Tages kommt sie nicht zum Unterricht. Das ganze Internat sucht sie. Schließlich brechen die Lehr...