Das Taxi hielt am Vorplatz des Bahnhofes und ich stieg aus. Der Taxifahrer half mir meine Tasche aus dem Kofferraum zu heben und ich gab ihm das Geld.
Ich zog meinen Fahrplan aus der Tasche und lief in die überfüllte Bahnhofshalle.
Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menschenmassen und fand schließlich das Gleis, wo mein Zug abfahren würde.
Ich war angespannt und aufgeregt, denn ich hatte keine Ahnung, was mich an meinem Ziel erwarten würde.Ich hatte über Lerry nachgeforscht. Über ihre Vergangenheit, ihre Familie und ihre Krankheit.
Ja Lerry war krank, doch ich hatte nicht herausfinden können, welche Krankheit es war.Nach zwanzig Minuten fuhr der Zug ein und ich stand langsam auf.
Meinen Eltern hatte ich erzählt ich würde eine Brieffreundin besuchen gehen, die ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Meine Eltern waren nicht davon begeistert gewesen, dass ich alleine weg fuhr. Besonders nicht nach dem Vorfall mit der Leiche, doch mit dem Versprechen, dass ich jeden Abend anrufen würde, hatte ich die Erlaubnis bekommen.Ich setzte mich in ein fast leeres Abteil und zog meinen Laptop aus der Tasche. Ich hatte mir ein paar Filme heruntergeladen, die ich mir jetzt anschauen wollte.
Nach einigen Stunden Fahrt kam ich an meinem Ziel an.
Ich stieg aus und lief sofort zum Taxistand um in die Innenstadt zu fahren.
Ich hatte eine Verabredung mit Lerrys Mutter.
Ich hatte mich zwar vorbereitet, doch ich war mir nicht sicher, ob sie meine Fragsn beantworten würde, da sie sehr persönlich waren.Niemand aus der Schule hatte mehr als Lerrys Namen von ihr gekannt. Sie war immer darauf bedacht gewesen sich niemandem anzuvertrauen, was ihr zu hundert Prozent gelungen war.
Das Café war klein und wirkte von außen ein wenig abgeranzt, doch innen war es gemütlich eingerichtet und die junge Frau hinter det Theke lächelte mir freundlich entgegen.
Ich bestellte einen Eiscafé und einen Bagel und setzte mich ans Fenster, das zur Straße führte.Ich war eine Viertelstunde zu früh und so ging ich nochmal die fragen durch, die ich Lerrys Mutter stellen wollte.
Im Hintergrund dudelte das Radio To the Top von Twin Shadow. Ich mochte das Lied, es gab mir Hoffnung, auch wenn ich nicht wusste wofür.
Die kleine Glocke über der Tür leutete und ich schaute von meinen Notizen auf.
Eine junge Frau, vielleicht Ende zwanzig schloss die Tür und schaute sich um. Ihre braunen Haare waren dünn und reichten ihr bis über die Brust. Sie war ein bisschen zu schlank, ihre Wangenknochen traten leicht hervor und ihr dunklen Augen huschten ziellos hin und her. Sie war nicht auffällig, doch strahlte eine unglaubliche Persönlichkeit aus.Ich stand auf und ging zu ihr.
"Entschuldigen sie, sind sie die Mutter von Lerry ?" , fragte ich.
"Ich... ja. Freut mich dich kennen zu lernen. Nenn mich doch Loreen." Sie reichte mir die Hand und ich schüttelte sie. Ihre Stimme war angenehm tief und hatte einen melodischen Klang.Ich lotste sie zu meinem Tisch und sie setzte sich mir gegenüber.
"Möchtest du etwas trinken?", fragte ich und rutschte auf dem Barhocker hin und her. Ich wusste nicht genau, wie ich das Gespräch beginnen sollte.
"Gerne", sagte Loreen und stand auf. " Ich hole mir eben einen Kaffee. Passt du auf meine Sachen auf?"
Ich nickte erleichtert und sie ging zum Tresen. Das war eindeutig ein Zeichen des Vertrauens. Ich würde bestimmt einige interessante Informationen von ihr bekommen.Ich wartete geduldig, bis Loreen sich wieder zu mir setzte.
"So", sagte sie und schaute mich abwartend an, "was kann ich für dich tun."
"Äh, ja genau, also ich hatte ja schon gesagt, ich würde gerne etwas über Lerry erfahren." Ich schluckte und räusperte mich.
"Du hast gesagt, du hast vor kurzem mit Lerry gesprochen und dass sie dir einen Abschiedsbrief geschrieben hat."Loreen rührte in ihrem Kaffee und schaute mich versonnen an.
"Das ist war, ich habe mit ihr gesprochen", sagte sie nach einer kurzen Pause. "Doch ich würde gerne wissen, was dich das angehen sollte. Du warst nicht ihre Freundin."
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich holte tief Luft und versuchte zu kontern.
"Sie sind sehr jung, ich nehme an 29? Wenn das der Fall ist haben sie mit vierzehn ein Kind bekommen! Sie haben nicht abgetrieben, haben es großgezogen und dann auf's Internat geschickt.
Jetzt hat sie jemanden umgebracht und ist verschwunden. Machen sie sich gar keine Sorgen um ihre Tochter?!"
"Ich bin 28 und damals war ich dreizehn und nein ich habe sie nicht abgetrieben, ich bin kein Mörder...", sagte sie ruhig, doch ich unterbrach sie.
"Aber ihre Tochter ist es! Sie hat jemandem das Leben genommen!", sagte ich langsam und betonte jedes Wort.
"Wenn, dann hatte sie einen guten Grund dafür.", fauchte Loreen leise und stand auf.
"Der Polizei haben sie nicht den Brief gezeigt, sie haben gesagt sie hätten ihn vor Wut verbrannt und die Polizei hat tatsächlich nirgends einen gefunden. Die Polizei hat ihnen das Schicksal des Briefes nicht geglaubt, genauso wenig wie ich. Bitte sagen sie mir sie Wahrheit!" , versuchte ich sie vom Gehen abzuhalten.
"Die Wahrheit ist, ich habe den Brief erfunden.",sagte sie trocken.
Ich runzelte die Stirn.
"Warum solltest du das tun?" Ich wechselte unabsichtlich von 'Sie' zu 'Du' und umgekehrt.
Loreen ließ sich auf den Barhocker fallen und seufzte.
"Jede Woche habe ich Lerry einen Brief geschrieben. Jede Woche in der Zeit, in der sie auf dem Internat war. Ich habe ihr erzählt, was ich gerade mache, dass ich sie vetmisste, fragte wie es ihr geht, doch sie hat nie zurück geschrieben.
Ich wollte mir einmal, nur einmal eingestehen, dass die mir zurück schrieb; und sei es auch nur ein Abschiedsbrief."Entgeistert starrte ich Loreen an.
"Sie haben die Polizei angelogen."
Sie lachte heißer auf. "Ich bitte dich, wer tut das nicht?!"Ich atmete tief durch. "Lerry war krank." Es war keine Frage.
Loreen blinzelte. "Woher weißt du das?"
"Das tut nichts zur Sache." Sie musste nicht wissen, dass mein Vater Artzt war und ich heimlich in seinen Akten gelesen hatte.Loreen biss sich auf die Unterlippe und schaute mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten konnte.
"Ja, sie ist krank. Sie hat Alexithymie, ist gefühlsblind, emotionslos; wie auch immer du es nennen willst."
Das erklärte so einiges. Auf einmal Verstand ich ihr Verhalten, konnte ihre Reaktionen nachvollziehen.
"Danke,"sagte ich, "es bedeutet mir viel, dass du mir das erzählst."
Loreen schüttelte den Kopf und lachte kalt. "Das tut es nicht, sie hat dir nichts bedeutet."
Ich ignorierte den Kommentar und schaute auf meinen Eiscafé.
"Sie waren dreizehn, als sie Lerry auf die Welt gebracht haben..."
"Ich habe im Januar, genauer gesagt an Neujahr Geburtstag, nur deshalb war ich noch dreizehn.", unterbrach sie mich. Sie sah mich nicht an, rührte wieder in ihrem Kaffee - hatte aber noch keinen Schluck getrunken - der bestimmt schon kalt geworden war.
"Am 3. Februar, es war ein Freitag, war ich auf dem Nachhauseweg von meinem Ballettunterricht. Ich wartete an der Bushaltestelle und neben mir auf der Bank saß mein Englischlehrer. Er gab mir noch ein paar Tipps für den Englischtest am folgenden Montag. Als der nächste Bus kam - in den ich jedoch nicht einsteigen musste - stiegen die zwei übrigen Leute ein, die noch an der Haltestelle gestanden hätten. Der Bus fuhr ab und wir waren allein."Ich sog tief die Luft ein. Ich wusste was jetzt kam. Und es gefiel mir nicht.
Doch Loreen sage nichts, ließ in der Luft stehen was ich dachte, während sie vermutlich alles nochmal durchlebte.Ich sagte nichts, bis die Stille unerträglich wurde.
"Hatte Lerry wirklich überhaupt keine Bezugsperson? Gar niemanden?"
Loreen schüttelte den Kopf "Ich denke es ist besser wenn ich jetzt gehe."
"Oh, natürlich.",sagte ich und konnte die Enttäuschung nicht unterdrücken.
Loreen reichte mir die Hand.
"Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht noch einmal anrufen würdest." Mit diesen Worten wandte sie sich zur Tür und verschwand.Ich ließ mich auf den Barhocker fallen und lehnte meinen Kopf nach hinten.
Es waren nicht viele Details, doch erschreckende.Eine Stunde lang saß ich noch am Fenster und blickte nach draußen, auf die mittlerweile regennassen Straßen. Ich dachte an nichts. Doch der Kloß in meinem Hals verschwand nicht.
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Drown
AdventureLerry ist anders. Sie ist eine Einzelgängerin. Still. Und hat keine Freunde. Tagsüber ist sie in ihrem Zimmer. Niemand weiß was sie dort tut, und eines Tages kommt sie nicht zum Unterricht. Das ganze Internat sucht sie. Schließlich brechen die Lehr...