5. Kapitel

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Es war ein Angstschrei. Laut. Durchdringend. Suchend schauten wir uns um. Doch wir konnten nichts sehen. Auch die anderen Schüler im Wasser und am Strand schauten irritiert. Julia, Tamara und ich schwammen so schnell wir konnten an das Ufer und stiegen aus dem Wasser. "Wer war das?", fragte Tamara einen Jungen namens Patrick. "Keine Ahnung, das kam aus dem Wald." "Los wir schauen nach!", sagte Julia. "Vielleicht braucht jemand Hilfe."

 Gemeinsam mit anderen Leuten gingen wir in den Wald. Vor kurzem hatte der Sturm "Sofia" über das Land gewütet und einige Bäume waren umgefallen und lagen jetzt zwischen den anderen auf dem Waldboden. "Da vorne!", rief ein Mädchen, dass vorausgegangen war und zeigte jetzt auf etwas rotes, was halb hinter einem Baum versteckt war. Instinktiv beschleunigten wir das Tempo. 

Vor uns kniete jemand am Boden. Es war Luna, sie war in meiner Klasse. Ausgestreckt vor ihr lag  eine reglose Gestalt. Geschockt riss ich die Augen auf und neben mir zog jemand scharf die Luft ein. Julia schlug sich die Hand vor den Mund und schluchzte auf. "Ist das Lerry?", flüsterte Tamara. Ich ließ mich neben Luna auf den Boden fallen und legte einen Arm um sie. Den Kopf in den Händen vergraben saß sie da und weinte. "Wie hast du sie gefunden?", fragte ich vorsichtig. Luna antwortete nicht sondern fiel mir nur um den Hals und drückte mich so fest an sich, dass ich fast keine Luft mehr bekam. "Ich hole einen Lehrer.", sagte Patrick und rannte los. Ich schaute auf. Die anderen standen betreten neben uns und schauten zu Boden. Julia lag in Tamaras Armen und weinte. Auch die anderen schienen sich nur schwer beherrschen zu können und ich sah vereinzelte Tränen.

Kurze Zeit später knackten Äste und Patrick kam mit einer Lehrerschaft im Schlepptau zurück gerannt.  Nach Luft schnappend blieb er stehen und Herr Grünewald drängelte sich zwischen der kleinen Ansammlung hindurch. Er kniete sich neben uns auf den Boden und drehte die Leiche um. Julia stieß einen spitzen Schrei aus und ich wandte mich ab. Luna drückte sich näher an mich und vergrub ihr Gesicht in meiner Schulter.

Das Gesicht der Leiche war verunstaltet. Die Augen waren herausgestochen. Das Gesicht war verbrannt und die Haut war schwarz und rot verfärbt. Ein hässliche Schnittwunde führte von der Stirn bis zum Kinn und ein Ohr war abgetrennt worden.

Ein Mädchen aus einer Klasse über mir, ich glaube sie hieß Sarah, übergab sich und ich musste ebenfalls gegen einen Würgereitz ankämpfen. Herr Grünewald fuhr zurück als er das Gesicht sah. Es war nicht zu identifizieren. Ob es wirklich Lerry war? wer hätte ihr so etwas antun sollen? Ich war  so geschockt, dass ich nicht merkte, wie ich aufgehört hatte zu Atmen.

Die schwärze verschlang mich und wollte mich nicht mehr freigeben. Sie zog mich immer tiefer und der Strudel aus schwarzem Nichts fasste mit kalten, schleimigen  Händen nach mir. Ich schrie. Doch niemand hörte mich. Ich war allein. Allein in einer Welt aus Geistern und Schatten. Nichts war real, doch es berührte mich und zog mich immer tiefer in den unergründlichen Abgrund. Dem Tod entgegen.

Schreiend fuhr ich hoch. Gierig schnappte ich nach Luft und das erdrückende Gefühl ließ langsam nach. Ich blinzelte in die Helligkeit, doch schloss meine Augen gleich wieder, weil sie anfingen zu tränen. "Atme tief ein und aus!", sagte eine, mir fremde Stimme. "So ist gut, und jetzt öffne langsam deine Augen." ich gehorchte der sanften Stimme und blinzelte. Verschwommen konnte ich eine weiße Gestalt über mir sehen. Panik stieg in mir auf. Hatten die Geister mich geholt? War ich tot? "Ganz ruhig, keine Angst", sagte die Stimme beschwichtigend. "Kannst du mir sagen wie alt du bist?" Ich wusste nicht was die Gestalt  von mir wollte, doch ich gehorchte. "Sechzehn...", brachte ich mit brüchiger Stimme heraus. "Stimmt das?", fragte die Person jemand anderen. "Ja." Moment die se Stimme kannte ich. Das war Herr... Herr... "Herr Grünewald?" "Ja Amy, ich bin da, alles wird gut." Erleichterung machte sich in mir breit. Ich war nicht tot.

Vorsichtig richtete ich mich auf und stützte mich auf meine Ellenbogen. Mein Blick war immer noch nicht ganz klar. "Was ist mit meinen Augen?", fragte ich. "Du musst dich nur an die Helligkeit gewöhnen." "Wo bin ich?" "Auf der Krankenstation." "Was ist passiert?", ich wollte mich hinsetzten, doch eine Hand drückte mich zurück auf die Liege. "Du musst dich erste ausruhen." Gehorsam legte ich mich wieder hin.

"Amy!" "Julia?" "O Gott, ich bin ja so froh, dass es dir gut geht." Eine Gestalt drückte mich an sich. Langsam klärte sich mein Blick und ich erkannte Tamara und Julia die mich erleichtert anstarrten. "Hey ihr Süßen.", ich lächelte tapfer, obwohl sich in mir alles zusammenzog. Ich erinnerte mich an das was passiert war. An die Leiche. Das Gesicht. Ich würgte und übergab mich vor die Füße meiner Freundinnen, die sofort zurückwichen.
Julia schaute mich mitleidig an. "Dir geht's bestimmt bald besser."
"Hey, aber wir haben gute Nachrichten für dich. Wir haben Ferien.", sagte Tamara fröhlich und grinste mich an. "Wie jetzt!?", fragte ich überrascht. "Aber wir haben noch drei Wochen Schule." "Nein, wir haben jetzt fünf Wochen Ferien.", sagte Julia und grinste mich ebenfalls an. "Wegen allem was heute passiert ist, hat Herr Grünewald uns in die Ferien geschickt."
Ein Mann in einem weißen Kittel kam herein und grüßte uns. "Wie geht es dir Amy?" "Ganz gut, glaube ich.", murmelte ich. Tamara holte einen Lappen aus dem Waschbecken und begann mein recyceltes Essen aufzuwischen.

Der Arzt maß meinen Puls  und hörte meinen Atem ab. "Ja," sagte er "ich finde auch, dass es dir wieder gut geht. Aber du solltest trotzdem erst noch ein langsam machen, okay?" Ich nickte und er half mir beim Aufstehen.

Julia und Tamara begleiteten mich auf mein Zimmer und setzten sich zu mir. Sie erzählten mir, was noch passiert war, wie die Polizei und der Notarzt gekommen waren und wie mich der verdammt gutaussehende, junge  Arzt ins Krankenzimmer getragen hatte. "Na, da wär ich gern dabei gewesen.", sagte ich scherzhaft, doch eigentlich war mir nur nach Heulen zu Mute. Ich hatte eine Leiche gesehen. Aber nicht nur eine Leiche, sondern eine verstümmelte. Julia erzählte, dass die ganze Schule so tat, als ob nicht passiert wäre. Doch die Stimmung war bei allen im Eimer.

Schließlich gingen Julia und Tamara sich etwas zu Essen holen und nach einer gefühlten Ewigkeit fiel ich endlich in einen unruhigen Schlaf, ohne Träume. Zum Glück.

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