Kapitel 1

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Nebelschwaden zogen um die heruntergekommenen Häuser. Wirbelten um braune, schlichte Lederschuhe, die lautlos über den holprigen, aufgerissenen Asphalt liefen. Hier, in den vergessenen Straßen der Stadt, herrschte fast immer Stille. Aber es war eine lauernde Stille, angereichert mit vielen unhörbaren Geräuschen, die zusammen doch ein Geräusch ergaben. Das Geräusch von Leben.

Augen spähten durch Ritzen in den zerfallenen Häusern, beobachteten das Mädchen, das zügigen Schrittes an ihnen vorbei lief. Ihre mit Flicken übersäten Klamotten flatterten im kühlen Morgenwind um ihren dürren Körper. Ihre Haare waren leicht verfilzt, aber ihre Augen waren wach, hart und glänzend wie Metall, scharf wie ein Messer.

Leo befühlte ihre leeren Taschen. Es war noch früh am Morgen, und wie jeden Morgen seit Wochen hoffte Leo inständig, wenigstens heute genug zu Essen für den Tag mit nach Hause zu bringen.

Ihre kleine Schwester war bereits Müde vor Hunger, und auch an Leo zogen die kargen Wochen nicht unbemerkt vorbei. Schon immer war ihr Körper mehr der eines Kindes gewesen als der einer Frau, aber ihre Hüftknochen hatten selten so weit vorgestanden wie in diesen Tagen.

Auf einmal hielt Leo inne. Ein dumpfes Pochen hallte durch die leeren Straßenzüge. Schritte. Niemand wagte es in dieser Stadt, gehört zu werden. Alle waren sie lautlos wie die Katzen, die wie Gespenster in dieser Stadt lebten. Alle, bis auf die Raubritter.

Die Raubritter waren laut, weil sie gehört werden wollten. Sie waren keine Ritter. Und sie raubten nicht. Sie nahmen sich, und keiner widersprach.

Mit einem lautlosen, federleichten Satz war Leo über eine bröckelige Mauer gesprungen und presste sich flach mit dem Rücken dagegen. Efeu verhedderte sich in ihren Haaren und bot ihr ein wenig Schutz, aber das beste Versteck war es nicht. Leos Muskeln waren angespannt, zum Wegrennen bereit, und doch kam Wegrennen nicht infrage. Vielleicht entkam man den Raubrittern. Einmal. Zweimal. Aber irgendwann bekamen sie einen doch, und je länger man es herauszögerte, umso schlimmer wurde es am Ende.

Leo trug nichts bei sich. Sie hatte nichts zu verlieren, nichts zu fürchten. Und doch fürchtete sie sich, fürchtete sich so sehr wie sich ein Mensch nur fürchten kann.

Nun waren die Schritte mehr als eine vage Ahnung. Sie wurden immer lauter, kräftiger.

Dann verstummten sie abrupt. Keinen Meter von Leo entfernt. Sie hielt die Luft an.

Mit einen Knall landete jemand vor ihr, und Leo schrie vor Schreck auf. Hätte sie zurückweichen können, hätte sie das getan, aber die Wand war immer noch in ihrem Rücken. Ihr Schutz war zur Falle geworden.

Der junge Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sodass er Leo von den Sonnenstrahlen abschnitt, die nach und nach durch den Nebel brachen.

„Wen haben wir denn hier?", fragte er. „Du versteckst dich doch nicht etwa vor uns?"

Verhaltenes, gemeines Lachen folgte seinen Worten, und einer nach dem anderen kamen auch die anderen Raubritter über die Mauer geklettert.

„Nein, Herr", sagte Leo mit unterwürfig gesenktem Kopf.

„Warum stehst du dann hinter einer Mauer?", fuhr einer der Männer sie an.

Leo zog die Schultern hoch. „Ich hatte Angst."

„Wovor? Vor uns?" Wieder lachten die Raubritter ihr kaltes, eingebildetes Lachen, aber Leo ließ sich nicht täuschen. Sie wusste, dass die Raubritter stolz darauf waren, dass sich jeder vor ihnen fürchtete. Das war ihre Überlebensstrategie in dieser verwahrlosten Stadt, und sie beherrschten sie ausgesprochen gut.

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt