Kapitel 11

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Obwohl Leo diese Nacht nicht geschlafen hatte, kam die Morgendämmerung für sie wie eine Erlösung. Zu lange hatte sie sich unruhig von einer Seite auf die andere gedreht, war im Kopf immer wieder durchgegangen, was sie alles mitnehmen würde. Geld, alle Klamotten, die sie besaßen, die Decken, Essen, ihr Nähzeug, Messer. Die Plastiktüten, die sie vor Regen schützen konnten. Ein paar leere Apfelmusgläser um Wasser zu transportieren. Aber wie sollte sie zum Beispiel Feuer mitnehmen?

Einmal aufgebrochen, gab es kein Zurück. Sie durften nichts vergessen. Aber jede unnötige Last würde sie nur aufhalten. Leo konnte nicht bestreiten, dass sie sich davor fürchtete, alles zu verlassen, was sie kannte, und mit ein paar Kindern ins Unbekannte zu ziehen. Andererseits würde es nicht mehr lange dauern, bis die Raubritter sie von der Bildfläche verschwinden lassen würden. Wann, wenn nicht jetzt, sollte also die richtige Zeit zu Fliehen sein?

„Aufstehen, Kinder", grummelte ihr Vater, und begann aus dem Topf mit dem eingeweichten Getreide zu löffeln. Leo stand sofort auf und wickelte sich die Decke eng um die Schultern, um nicht zu frieren. Sofia brauchte etwas länger. Mit müden Augen sah sie zu ihrem Vater hinüber.

„Heute geht ihr zusammen stehlen", ordnete er an. „Die Leute reden nur noch über den Prinzen, da fällst du nicht mehr auf, Leo."

„Ja, Vater", sagte Leo leise. Sie hatte nicht mehr vor, heute noch stehlen zu gehen, aber selbst wenn, hätte sie sich nicht mit Sofia an ihrer Seite blicken lassen. Wer wusste schon, ob sich inzwischen herumgesprochen hatte, wer das Mädchen des Prinzen war. Gestern noch hatte man sie keines Blickes mehr gewürdigt, aber das konnte heute bereits wieder anders sein.

Sofia kam mit einem tiefen Stirnrunzeln aus der Schlafkammer herausgetapst. In ihrem kleinen Kopf schien es mächtig zu arbeiten, und Leo hoffte inständig, dass sie jetzt nichts unüberlegtes sagen würde.

„Aber was ist ...", begann Sofia, doch bevor sie etwas ausplaudern konnte, unterbrach Leo sie.

„Wir gehen heute zusammen stehlen. Ist das nicht toll?"

„Ja, aber ..."

„Das wolltest du doch die ganze Zeit", sagte Leo mit Nachdruck.

„Ihr geht am besten sofort los", sagte ihr Vater und reichte Leo den Löffel, damit sie schnell ein paar Happen essen konnte. „Unseren wohlhabenden Mitbürgern ist wohl am besten beizukommen, wenn sie noch müde sind."

Jetzt war es Leo, die sich die Widerworte verkneifen musste. Stehlen war immer gefährlich, aber sich jetzt, so kurz vor der Freiheit, noch einmal in diese Gefahr zu begeben, erschien ihr geradezu töricht. Ihren Vater misstrauisch zu machen erschien ihr jedoch genauso töricht.


„Wo stehlen wir zuerst?", fragte Sofia, die munter neben Leo durch die Straßen hüpfte.

„Nirgends. Wir laufen nur solange durch die Gegend, bis Vater sicher in der Fabrik ist", entgegnete Leo.

„Warum?", fragte Sofia und pflückte ein Spitzwegerichblatt vom Wegesrand.

„Weil es sich nicht mehr lohnt, jetzt noch etwas zu riskieren", sagte Leo mit gesenkter Stimme. Sofia kaute nachdenklich auf dem Spitzwegerich herum.

„Aber sonst ist doch auch immer alles gutgegangen."

„Erinnerst du dich an den Wurststandbesitzer, der auf uns geschossen hat?", fragte Leo. Sofia schmollte. Damals war sie einfach zu dreist gewesen, und ihr Vater hatte ihr den Vorfall noch Monate später vorgehalten.

„Aber manchmal war es auch gut", sagte Sofia. „Geld zu klauen war nie schwer."

Leo ersparte es sich, anzumerken, dass auch das nicht immer gutgegangen war. Denn Sofia hatte ja recht: Meistens hatten sie ein ordentliches Sümmchen zusammengeklaubt. Gerade Sofia war einfach begnadet darin, so unschuldig auszusehen, dass niemand aufpasste, wenn sie neben jemandem erschien. Leo hingegen musste immer aufpassen, nur ja im Rücken der Leute zu bleiben.

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt