Kapitel 32

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Mit einem wütenden Schrei sprang Leo auf, woraufhin Sofia unsanft von ihrem Bein purzelte. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah Leo zu, wie sie fluchend durch die Hütte lief.

Sie hatte den Prinzen doch extra durchsucht. Ihm all seine Waffen abgenommen. Oder hatte sie etwas übersehen? Konnte das sein?

Fluchend trat sie gegen den Waffenstapel, den sie fein säuberlich außer Reichweite des Prinzen gelegt hatte. Sie wusste nicht, ob sie es gut oder schlecht finden sollte, dass alles noch da war. War das ein Friedensangebot? Oder bedeutete das, dass der Prinz die paar Waffen nicht benötigen würde, wenn er mit einer Armee zurückkehren würde, um sie zu holen?

Aber eigentlich konnte Leo das egal sein. Wenn er zurückkommen würde, würden sie und Sofia nicht mehr da sein.

Nur, wie lange war der Prinz schon weg? Die Sonne ging gerade auf, doch der Pfosten war kalt und sie war auch nicht von Schritten wachgeworden. Das bedeutete, dass er schon länger fort sein musste. Sie durften keine Zeit mehr vergeuden.


Hastig begann Leo, die Decke, die Flasche, die restlichen Wurzeln und Pilze und den Großteil der Waffen in den Beutel zu stecken. Dann machte sie die Knoten aus den zerschnittenen Lederriemen und band sie notdürftig wieder an den Rucksack. Fürs Erste würde das reichen.

„Komm Sofia. Wir müssen hier weg", sagte Leo, als sie den Beutel geschultert hatte. Aber Sofia hatte die ganze Zeit nur dagesessen, Leo zugeschaut und sah sie nun mit großen, feucht schimmernden Augen an. Es schien, als wolle sie nicht glauben, was sie da gerade sah.

„Wo ist der Prinz?", fragte sie mit erstickter Stimme.

„Weg." Leo breitete die Arme aus und versuchte, ihren Tonfall nicht allzu sehr nach „hab ich's dir nicht gesagt?" klingen zu lassen.

„Aber er muss doch mitkommen", sagte Sofia ungläubig. Als ob sich die Situation nicht von alleine erklären würde.

„Wir können hier nicht warten, bis er die anderen Raubritter geholt hat und uns niederschießt."

„Das würde er nie machen!"

„Psst, nicht so laut. Sie könnten jeden Moment kommen." Unruhig sah Leo aus dem fast vollständig zugewucherten Fenster, aber in der fahlen Morgendämmerung konnte sie nichts erkennen.

„Er ... er holt bestimmt nur Essen. Das hat er doch gesagt." Sofia begann zu schluchzen. „Er kommt sicher gleich zurück."

„Ja. Und genau deshalb müssen wir jetzt gehen", sagte Leo eindringlich. „Sie werden uns umbringen, verstehst du das denn nicht?"

Aber Sofia heulte nur, die Arme fest verschränkt, und wollte offensichtlich nicht verstehen.

„Ist ja gut." Leo schloss ihre kleine Schwester in die Arme bis sie sich etwas beruhigt hatte. „Wir brechen jetzt auf. Morgen ist die Welt wieder eine andere."

Sanft aber bestimmt nahm sie Sofia an die Hand und zog sie auf die Beine.

„Komm jetzt. Zusammen schaffen wir das."

Schniefend sah Sofia sie an, dann klammerte sie sich ganz fest an Leos Arm.

„Versprich mir, dass du mich nie alleine lässt."

„Hab ich nicht vor", sagte Leo sanft.


Als sie gemeinsam aus der Hütte hinaustraten, sangen die Vögel und der Wald wurde von der Morgensonne in märchenhafte Farben getaucht. Leo sog die Morgenluft tief in sich auf, lauschte den Vögeln, die ihr verrieten, dass außer ihr kein Mensch in der Nähe war und genoss den frischen Wind auf ihrer Haut. In diesem Moment glaubte Leo zum ersten Mal wirklich daran, dass sie es schaffen konnten. Der Wald war vielversprechend an diesem Morgen, wie ein wahr gewordener Traum.

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt