Kapitel 22

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In jedem der Zellen stand ein kleiner Krug mit Wasser für die Nacht, sodass Leo zumindest genug zu trinken bekam, auch wenn niemand etwas zu essen für sie hatte. Es tat gut, die kühle Flüssigkeit durch ihre trockene, brennende Kehle laufen zu lassen, und vielleicht war es nur Einbildung, aber ihre Kopfschmerzen ließen ein bisschen nach. Das Mädchen erzählte Leo viel über das Leben der Raubritter, was ihr vielleicht nützlich werden könnte, aber die Zeit reichte bei Weitem nicht, um Leo alles zu erzählen, was sie wusste.

„Geh jetzt", raunte sie schließlich. Inzwischen waren viele der Gefangenen wach und musterten Leo neugierig. Leo war klar, dass sie alle befreien musste, wenn sie vermeiden wollte, verraten zu werden, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie das hinkriegen sollte.

„Bald ist morgen, dann kommen die Raubritter von ihrer Suche nach dir zurück. Dann dauert es nicht mehr lange, bis man uns zum Arbeiten holt und du kannst dich nirgendwo mehr frei bewegen ohne befürchten zu müssen, gesehen zu werden", erklärte das Mädchen. „Los, finde Sofia. Und vergiss uns nicht." Den letzten Satz sagte sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, obwohl ihr Gesicht verriet, wie ernst es ihr damit war."

„Ich hole euch hier raus", versprach Leo ein letztes Mal, dann lief sie in die Richtung, die man ihr beschrieben hatte.

Rechts, links, links, geradeaus, zwei Abzweigungen lang, dann rechts, ... Noch nie hatte Leo eine so komplizierte Wegbeschreibung bekommen, aber sie merkte sie sich so verbissen, als hinge ihr Leben davon ab. Dabei lief sie so schnell wie sie konnte, ohne Lärm zu machen, ständig in der Angst, bereits zu spät zu sein. Bei jedem Geräusch fürchtete sie, dass die Raubritter bereits von ihrem nächtlichen Streifzug zurückkehrten, dass man sie sehen und zu den anderen sperren würde. Was würde dann mit Sofia geschehen?

Ob es wirklich stimmte, was man sich erzählte? Leo würde den Prinzen mit seinem eigenen Messer aufschlitzen.

Müdigkeit und Hunger waren vergessen, als Leo die niedrigen Gänge entlangeilte. Je weiter sie lief, desto mehr veränderten sich die Gänge. Es gab mehr Türen, die sich deutlich von der Wand abhoben, und die mit Schildern versehen waren. Hätte Leo lesen können, hätte ihr das vielleicht weitergeholfen, aber ihr sagten die Zeichen gar nichts. Die Gänge wurden breiter, höher, und immer wieder unterbrachen große runde Plätze das ewige Labyrinth.

Noch zwei runde Plätze, dann links, an zwei Abzweigungen vorbei, und sie war da. Leo konnte es nicht fassen, dass sie tatsächlich ihren Weg durch diese verworrenen Gänge gefunden hatte, konnte nicht glauben, dass das die richtige Tür war, vor der sie gerade stand. Aber alles hatte gepasst. In der Ferne wurden immer mehr Geräusche laut, und Leo bekam das dumpfe Gefühl, dass sie es gerade rechtzeitig zu Sofia geschafft hatte.


Sie öffnete die Tür, nur einen winzigen Spalt, und lugte in das Zimmer. Dort, am anderen Ende des Raumes, lag Sofia auf einem Bett und öffnete verschlafen die Augen. Leos Herz machte einen Sprung, und sie wagte es, die Tür noch ein Stück weiter zu öffnen. Außer Sofia war niemand im Raum. Da breitete sich ein Lächeln über Leos gesamtes Gesicht aus, und auch Sofia strahlte von einem Ohr bis zum anderen, als sie ihre Schwester erkannte. Leo hätte nicht gedacht, dass man so viel Glück verspüren konnte, wie sie in diesem Moment. Voller Erleichterung und Freude rannte sie auf ihre kleine Schwester zu und schloss sie so fest in die Arme, als wolle sie sie nie wieder loslassen. Sofia fing sogar an zu weinen und klammerte sich an Leo wie an einen Rettungsanker auf stürmischer See.

Erst als sich Schritte näherten, löste Leo sich erschrocken aus der Umarmung. Schnell warf sie einen Blick Richtung Tür, aber die war zum Glück von alleine zugefallen und verriet sie somit nicht. Trotzdem bestand kein Zweifel, dass die Schritte auf Sofias Zimmer zuhielten.

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt