Kapitel 7

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„Setz dich", sagte Leos Vater bedrohlich ruhig, als sie zögerlich auf das Feuer zukam.

„Es war keine Absicht", verteidigte Leo sich sofort. Sie setzte sich nicht.

„Erkläre mir, wie das passieren konnte."

„Ich war kurz pinkeln", sagte Leo, die inzwischen viel Zeit gehabt hatte, um sich zu überlegen, was sie erzählen wollte und was lieber nicht. „Als ich auf den Marktplatz zurückkam, sah ich einen Mann mit zwei Äpfeln in der Hand weglaufen. Bevor ich realisieren konnte, dass es ein Raumritter war, hatte ich ihn schon unfreundlich zurückgerufen."

„Wie kann man das übersehen?"

„Viele Menschen, es ging alles sehr schnell." Leo blickte zu Boden.

„Aber man bemerkt doch, wenn Raubritter auftauchen", sagte ihr Vater verständnislos. Ein wenig Wut schimmerte bei seinen Worten ebenfalls durch, aber noch unterdrückte er sie. Das war fast beunruhigender, als wenn er schreien würde.

„Ich hatte den Bollerwagen am Rand vom Markt abgestellt, und war ja noch nicht einmal wieder richtig auf den Marktplatz, als ich ihn gesehen habe. Aber ich wurde ja bloß ein wenig geschlagen, und das Geld habe ich noch fast alles. Viel Geld", fügte Leo hoffnungsvoll hinzu. Dass sie die Schläge wohl selbst in einer Woche noch deutlich spüren würde, verschwieg sie.

„Bloß ein wenig geschlagen?" Jetzt wurde Leos Vater doch laut. „Weißt du, was hätte passieren können? Du hättest tot sein können, wegen einer solchen Fahrlässigkeit. Tanzt du noch einmal aus der Reihe, und sei es ein noch so geringer Ausrutscher, wirst du enden, wie der Metallschmied, ich sehe es schon vor mir!"

„Ich passe auf, versprochen", sagte Leo leise. Ihren Korb hielt sie immer noch umklammert, als könne er ihr irgendwie Schutz bieten.

„Das hilft jetzt auch nichts mehr!" Leos Vater sprang wutentbrannt auf, seinen Gürtel hatte er in der Hand. „Jeder, wirklich jeder kennt nun dein Gesicht! Alle reden über dich! Kannst du mir erklären, wie du jetzt unauffällig etwas stehlen willst? Kannst du mir erklären, wie wir den Winter überleben sollen?" Bei jedem Satz sauste der Gürtel auf Leo nieder, ein Hieb zerriss ihr Oberteil. Diesmal schrie sie.

Sofia weinte.


Die Nacht war kalt und stürmisch und Leo tat kaum ein Auge zu. Die Wunde an ihrem Rücken brannte, und obwohl Leo sich trotz der Kälte erst ein anderes Oberteil übergezogen hatte, als die Blutung endlich aufgehört hatte, nässte die Wunde und klebte nun an ihrem einzigen anderen Oberteil. Zu allem Überfluss schluchzte Sofia selbst im Schlaf.

So kam es, dass Leo lange, bevor es hell wurde, aufstand, sich ihr kaputtes Oberteil nahm, Nadel und Faden einsteckte und zum Fluss lief. Ihren neu erworbenen Mantel hatte sie übergezogen, trotzdem zitterte sie wie Espenlaub. Nachts klang die Stadt anders. Alles war leiser, geheimnisvoller, aber der Fluss verschluckte alle Geräusche.

Im ersten Moment wünschte Leo sich, sie wäre nicht auf die Idee gekommen, in den kühlsten Morgenstunden das Blut aus ihrem Oberteil zu waschen, aber dann tunkte sie doch die Hände in das klare, kalte Wasser. Eine Wäsche tat ihrem Oberteil sowieso ganz gut.

Der Fluss riss an dem Stoff und schon bald spürte Leo ihre Finger nicht mehr. Immerhin lagen die ersten Anzeichen der Dämmerung über dem Land und die Vögel erwachten langsam. Die kältesten Stunden der Nacht waren vorüber und tiefe Müdigkeit hatte Leo endlich eingeholt. In einem kleinen, knorrigen Baum, der sich neben ihr an das Flussufer klammerte, trällerte ein Vogel mit hoher, feiner Stimme. Auch aus dem Efeu, das die alten Backsteinhäuser umwucherte, konnte Leo immer mehr Vögel hören. Es hatte etwas Schönes, so früh am Morgen draußen zu sein und das Rauschen des Baches beruhigte sie.

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt