Kapitel 20

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Leos Körper war zu müde. Zu müde, um irgendetwas zu machen, außer zu zittern. Aber selbst das wurde schwächer und schwächer. Leo konnte nicht einmal mehr den Kopf heben. Sie schloss die Augen und ergab sich ihrem Schicksal, als sie ein Schlag ins Gesicht traf.

„Jetzt bloß nicht aufgeben, Junge!" Jemand presste ihr etwas gegen den halb geöffneten Mund, und warme Flüssigkeit rann Leos Mundwinkel herab. Flatternd öffnete sie die Augen und musterte das dunkle Schemen, das vor ihr kniete. Es war der alte Mann, mit dem sie am Nachmittag ihr Essen geteilt hatte.

„Ich habe deinen Rucksack gesehen." Der alte Mann hielt ein triefendes Bündel in die Luft. „Die Strömung hat ihn Richtung Ufer getrieben, und ich habe ihn rausgefischt. Du kannst von Glück reden, dass ich dich auch gesehen habe, Junge. Dein Rucksack kann besser schwimmen als du."

Ein schwaches Lächeln huschte über Leos Gesicht und sie leckte sich die Flüssigkeit von den Lippen. Es schmeckte nach Wurzelgemüse.

„Hier, nimm noch einen Löffel." Diesmal fand der Großteil der Suppe sein Ziel. Leo kaute zweimal und schluckte.

„Langsam, langsam." Der Mann lief so schnell er konnte zu einem Gebüsch und zog eine Decke hervor. „Die wirst du brauchen. Nicht, dass du erfrierst."

Unter großer Anstrengung brachte Leo sich in eine sitzende Position, die Decke lehnte sie jedoch ab. Der Mann musste für sein Alter noch ganz schön kräftig sein. Er hatte sie offensichtlich bis in die schützende Dunkelheit eines zerfallenen Gebäudes geschleift. Leos Beine waren leicht zerkratzt, doch sie spürte es nicht.

„Meine kleine Schwester lebt", sagte sie zwischen zwei Löffeln Suppe. Verwundert sah der alte Mann sie an und begann, die restlichen Wurzeln aus Leos Rucksack in den fast leeren Topf zu schnibbeln. Während er neues Holz auf das Feuer legte, über dem der Topf hing und Wasser für die Suppe vom Fluss holte, erzählte Leo ihm, als er wieder mit dem Topf voll Wasser zurückkam, wie sie ihre kleine Schwester verloren hatte.

„Sie haben sie nicht sofort getötet", sagte Leo, bestimmt zum dritten Mal. „Das muss doch was heißen. Vielleicht halten sie sie nur gefangen, weil ... weil sie noch so jung ist oder so."

„Hm." Nachdenklich sah der Mann sie an. Seine runzelige Stirn legte sich noch mehr in Falten und seine schmalen Finger trommelten geistesabwesend auf seiner Hose.

„Da ist was dran", sagte er schließlich langsam. „Aber selbst wenn sie noch am Leben wäre, würde es dir nichts helfen. Niemand weiß, wo die Raubritter leben, wie willst du also herausfinden, wo sie deine Schwester verstecken?"

„Ich ..." Hilflos sah Leo den Mann an, aber dann stahl sich ein siegessicheres Lächeln auf ihre Lippen. „Ich glaube, ich weiß, wo sie leben."

Das verschlug selbst dem alten Mann die Sprache.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie aus einem Keller kamen." Noch immer zitterte Leo heftig, aber die Suppe gab ihr Kraft, und das Feuer hatte ihre Kleidung von vorne schon fast getrocknet. „Bestimmt leben sie da unten. Es gibt keine Häuser, in denen sie leben, das wüsste man. Also leben sie eben unter den Häusern."

Der alte Mann räusperte sich. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob dieses Wissen ihm nicht gefährlich werden könnte. Ständig sah er über seine Schulter.

„Nun nimm doch die Decke. Und lass das Thema besser vorerst. Es sind viele Raubritter heute Nacht unterwegs. Sie waren schon dreimal hier."

Leo nickte gedankenverloren. „Ich weiß." Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die Seitenstraße streifen. Aber nichts rührte sich, obwohl das Rascheln der Tiere in dieser Nacht unruhiger, vorsichtiger war. „Ich muss trotzdem los. Ich muss Sofia finden. Noch eine Nacht werde ich nicht warten. Irgendwann muss ich schlafen, und dann finden sie mich. Nein, ich muss los."

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt