Leo fluchte lautlos. Sie hatte noch nichts zum Abendessen bekommen, und aufs Klo musste sie auch mehr als dringend, da sie sich tags einfach nicht getraut hatte. Aber was, wenn der Prinz einen leichten Schlaf hatte und aufwachte, wenn sie sich aufs Klo schlich? Automatisch tastete Leo nach dem Messer, bis sie begriff, dass sie es immer noch in der Hand hielt. Fast schon ein bisschen unheimlich, wie sehr das Messer des Prinzen ein Teil von ihr geworden war. Aber es war das einzige, was ihr hier unten Sicherheit und ein Gefühl von Kontrolle gab.
Eine Weile lauschte sie dem leisen Schnarchen, aber dann hielt sie es einfach nicht mehr aus. Ihre Blase drückte zu stark, ihre Kehle war trocken, und dass ihr Magen noch nicht so laut geknurrt hatte, dass der Prinz glauben würde, da wäre einen Wolf unterm Bett, grenzte an ein Wunder.
Vorsichtig kroch Leo unterm Bett hervor und lugte über die Bettkante. Beinahe erwartete sie, dem Prinzen direkt in die Augen zu sehen, oder am besten eine glänzende Messerklinge unter die Nase gehalten zu bekommen, aber nichts dergleichen geschah. Der Prinz hatte die Augen geschossen und lag ausgestreckt auf dem Bett.
Er wirkte unglaublich groß und trotzdem sanft, mit leicht geöffneten Lippen und entspannten Gesichtszügen. Ihm gegenüber lag Sofia mit halb geschlossenen Augen und blickte ihn verträumt an. Als sie Leo bemerkte, zuckte sie leicht zusammen, aber Leo lächelte sie besänftigend an, und Sofia lächelte erleichtert zurück.
Ohne den Prinzen eines weiteren Blickes zu würdigen, huschte Leo aufs Klo. Es kostete sie all ihre Überwindung, nicht zu dem schlafenden jungen Mann zurückzusehen, als sie die Tür schloss. Seltsam erleichtert lehnte sie sich an die Tür, dann erinnerte sie ihre Blase daran, warum sie eigentlich hier war. Den ganzen Tag nicht aufs Klo gehen zu können, ohne eine richtige Ablenkung, war reichlich ätzend gewesen, da hatte sich der halbe Liter, den sie davor getrunken hatte, schon gut bemerkbar gemacht.
Als Leo die Tür wieder öffnete, schlief der Prinz immer noch. Sein leises Schnarchen war bis durch die Tür durchgedrungen, und so hatte Leo nicht allzu viel Unbehagen verspürt, als sie die Nase aus der kleinen Kammer herausstreckte. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, den Prinzen zu ignorieren, aber er nahm ihren Blick sofort gefangen. Seine schwarzen, strubbelig vom Kopf abstehenden Haare hingen ihm leicht in die Stirn, und obwohl er etwas unelegant auf dem Bett lag, strahlte sein Körper einen gewissen Anmut, eine gewisse Schönheit aus, die Leos Blick sofort gefangen nahm.
Ohne die Weste der Raubritter sah er verletzlicher, aber auch harmloser aus, was durch seinen leicht offen stehenden Mund noch betont wurde.
Sofia hatte sich wie eine Katze zusammengerollt und an den Prinzen gekuschelt. Ihre Augen blieben geschlossen, als Leo die Tür hinter sich schloss. Gebannt sah sie das ungleiche Paar an, spürte, wie sich ein leichtes Flattern in ihrer Brust bemerkbar machte. Sofia sah so klein, so zerbrechlich neben dem Prinzen aus.
Seine Schultern waren bestimmt doppelt so breit wie ihre. Immer und immer wieder wanderte Leos Blick über seinen Körper, und eine Unruhe ergriff Leo. Es war, als würden sich alle Muskeln in ihrem Körper anspannen, aber sie verspürte nicht den gewohnten Impuls, wegzurennen. Im Gegenteil. Ein Teil von ihr würde am liebsten diese breiten Schultern berühren, seine Nähe spüren.
Plötzlich flatterten die Lider des Prinzen leicht, und der Hauch eines Lächelns schlich sich auf sein Gesicht. Erschrocken wich Leo einen Schritt zurück und hob das Messer, aber der Prinz schnarchte unbeirrt weiter. Er musste träumen. Was er wohl träumte, dass sich so ein Lächeln auf sein Gesicht schlich?
Einen Moment lang sah Leo ihn noch wie gebannt an, dann wandte sie ruckartig den Blick ab. Das war lächerlich. Nein, es war gefährlich, naiv und dumm, diese Gefühle zuzulassen. Es war schon schwer genug, dass Sofia dem Prinzen mehr zu vertrauen schien als Leo. Da musste sie nicht auch noch leichtsinnig auf dieses hübsche Gesicht hereinfallen.
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Die vergessenen Straßen
RomansLeos Familie ist bitterarm. Ihre Mutter ist schon lange gestorben, ihr Vater verdient nicht genug, um seine beiden Töchter zu ernähren, und wäre nicht Leos kleine Schwester, hätte Leo wohl nichts lebenswertes in ihrem Leben. Immer wieder muss sie st...