Kapitel 17

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Der Mond schien strahlend hell an dem wolkenlosen Himmel. Leo hätte sich lieber vollkommene Finsternis gewünscht, damit eventuell Wache schiebende Raubritter sie nicht sehen würden. Aber so würde sie wenigstens auch die Raubritter sehen, sollten sich welche zwischen den kaputten Mauern verstecken. Inzwischen war es lausig kalt geworden und Leo schlotterte trotz ihres Mantels am ganzen Körper.

Wenn der Wind hier oben nicht so laut gewesen wäre, hätte man Sofias Zähneklappern bestimmt im ganzen Hochhaus gehört. Abgesehen von ihren aufeinanderschlagenden Zähnen bewegte sich von Sofia allerdings seit Stunden nichts mehr und Leo hatte das Kühlen längst aufgegeben, da sie fürchtete, dass ihre Schwester trotz des glühenden Fiebers erfrieren würde.

„Bereit?", fragte Leo. Zur Antwort löste sich ihre Schwester so langsam wie eine zum Leben erwachende Statue aus ihrer zusammengekauerten Haltung und krabbelte Richtung Treppe. Sofia schien es kaum erwarten zu können, endlich von diesem eisigen Dach zu kommen, trotzdem hielt Leo sie zurück, nicht nur, weil sie alles andere als aufmerksam wirkte.

„Ich gehe vor", ordnete sie an. Falls Sofia in ihrem bedenklichen Zustand ausrutschen würde, war Leo lieber unter als über ihr. Rückwärts begann sie die Treppe herunterzukrabbeln, was durch das Messer in ihrer Hand erheblich erschwert wurde. Aber unten anzukommen, ohne ein Messer in der Hand, erschien ihr noch schlimmer, als die ächzende, knarzende Treppe einhändig herunterzuklettern. An die Wand gepresst robbte Leo nach unten, so weit weg vom Abgrund wie nur irgendwie möglich. Trotzdem machten die Stufen nicht den Eindruck, als ob sie Leo halten wollten. Sie neigten sich noch schlimmer unter Leos Füßen und Händen als beim Aufstieg und schienen sie förmlich in die Tiefe zu ziehen. Beunruhigt blickte Leo über den Treppenrand hinweg in die Tiefe, sah ein paar losgetretenen Steinchen hinterher, die mehrere Stockwerke ungebremst in die Tiefe schossen. Auf dieser Seite der Treppe hatte das Feuer und schließlich der Zahn der Zeit den Großteil vom Gebäude genommen, selbst die tieferen Stockwerke wollte man auf dieser Seite nicht betreten.

Leo schluckte und machte einen weiteren vorsichtigen Schritt nach unten. Schon über die Hälfte der Treppe hatte sie hinter sich, als plötzlich eine Stufe unter ihrem Fuß vollends wegbröckelte. Erschrocken zog Leo den Fuß zurück, konnte jedoch das Gleichgewicht nicht wirklich halten und drohte, nach unten abzurutschen. Mit einem Aufschrei kippte sie nach hinten, versuchte, mit einem Bein Halt auf der nächsten Stufe zu finden, aber auch diese Treppenstufe weigerte sich, ihr Gewicht zu tragen. Ihr ruckartiges Aufkommen war zu viel Belastung für die ohnehin marode Treppenstufe, und diesmal konnte Leo den Fuß nicht rechtzeitig zurückziehen. Wieder schrie sie vor Angst und vor Schreck, versuchte, den verlorenen Halt zurückzugewinnen, konnte sich jedoch nicht wirklich festhalten. Sie wusste kaum, wie ihr geschah, trotzdem gelang es ihr irgendwie, sich schlitternd auf der schmalen Treppe zu halten. Dann war plötzlich wieder fester Boden unter Leos Füßen, und sie blieb zusammengekauert liegen, wartend, dass auch er unter ihr wegbrechen würde. Aber abgesehen von den beunruhigenden Geräuschen, die der alte Boden von sich gab, geschah nichts.

„Leo?" Sofias Stimme klang ängstlich, fast hysterisch.

„Geht schon. Komm runter, aber pass auf die letzten Stufen auf!", rief Leo. Aber natürlich war nichts in Ordnung. Sollte auch nur ein einziger Raubritter in diesem Haus Wache gestanden haben, würde er jetzt wissen, dass sie da waren. Wahrscheinlich würden sie schneller hier oben sein, als Sofia die Treppe herunterkommen würde. Im Moment sah es jedoch so aus, als würde Sofia gar nicht die Treppe herunterkommen wollen.

„Komm schon", drängte Leo sie. Wachsende Panik machte sich in ihr breit, und sie blickte sich immer wieder nervös um, das Messer in der Hand. Langsam, viel zu langsam, setzte Sofia einen Fuß auf die Treppe. Der unheimliche Ruf einer Eule hallte durch die Nacht.

Die vergessenen StraßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt