Sofia klammerte sich so fest an Leo, dass es beinahe mehr weh tat als die wenigen Schuttteile, die sie im Rücken trafen. Trotzdem löste Leo die Umarmung selbst dann nicht, als eine gespenstische Stille eintrat. Die Augen fest geschlossen und die Nase in Sofias kurzen Haaren, vergaß Leo für eine Weile die Welt.
Bis Schritte sie aufschrecken ließen. Beinahe widerwillig löste Leo die Umarmung und sah zur Treppe hinüber, von der die Schritte kamen. Sie waren schnell, aber gleichzeitig auch schwer, wie die Schritte eines großen Mannes. Ein Raubritter. Leo riss sich den Rucksack vom Rücken, und hielt das Messer in der Hand noch bevor der Mann in Sichtweite war. Dann setzte sie sich den Rucksack wieder auf und zog Sofia mit sich in Deckung.
Genug Schutt war dafür inzwischen vorhanden, allerdings konnte Leo so auch nicht sehen, wer sich da näherte. Den Schritten nach zu urteilen war der Mann nun in ihrem Stockwerk angekommen. Seine Schritte wurden langsamer, er schien zwischen dem Schutt umherzulaufen, als suche er etwas. Jemand. Sie.
„Leo? Sofia?" Es war der Prinz. Leo konnte nicht fassen, dass er nach allem, was sie getan hatte, tatsächlich hierher kam. Sie schämte sich beinahe für das Gefühl von Erleichterung, das sie durchflutete, als sie seine Stimme hörte. Der Prinz. Sie waren gerettet. Dass sie sowas je denken würde, hätte sie bis vor wenigen Tagen nicht geglaubt.
Langsam richtete sie sich auf, erstarrte jedoch sofort. Der Prinz kehrte ihnen den Rücken zu, während er sich zwischen all dem Schutt umsah. In einer Hand hielt er schussbereit eine Pistole. Sofort ging Leo wieder in Deckung und ihr wurde eiskalt. Was hatte sie erwartet? Dass er kommen und sie mit einem Lächeln an all den Raubrittern vorbei in die Freiheit führen würde? Sie hatte sein Vertrauen missbraucht, beinahe sein gesamtes Werk vernichtet.
„Leo? Sofia?"
Gerade noch rechtzeitig bemerkte Leo, wie ihre Schwester etwas sagen wollte, und hielt ihr den Mund zu. Sofort begann Sofia sich zu wehren, aber Leo war stärker.
„Er hat eine Pistole", wisperte Leo so leise wie sie konnte. Aber da kamen die Schritte bereits auf sie zu. Leo tat das Letzte, was ihr noch einfiel. Geduckt robbte sie im Schutze von eingestürzten Fußbodenresten auf den Prinzen zu. Dann verharrte sie einen Moment, wartete, bis sie seine Schritte an sich vorbeigehen hörte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Konnte er sie sehen? Würde er sie sofort erschießen? Aber dann war er an ihr vorbei und Leo sprang auf, das Messer fest in der Hand. Sie riss den Prinzen am Kragen zurück, sodass er leicht nach hinten stolperte. Als er sich wieder gefasst hatte, presste Leo ihm bereits das Messer an die Kehle.
„Lass die Pistole fallen!", zischte sie in sein Ohr.
„Leo!" Der Prinz klang überrascht und aufrichtig erleichtert, aber Leo ließ sich nicht auf sein Spiel ein.
„Lass sie fallen!" Sie drückte das Messer gegen seinen Hals, allerdings nicht fest genug, als dass sie ihn verletzte. Der Prinz verstand die Geste und öffnete gehorsam die Hand. Mit einem dumpfen Geräusch landete die Pistole auf dem Boden.
„Leo, ich ..."
„Spar dir die Worte", sagte Leo leise. Sie wollte nicht hören, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hatte. Sie wollte einfach nichts mehr hören. Diese Flucht würde sie ohne seine Hilfe durchführen. Sie würde niemandem außer sich selbst vertrauen. Nur so konnte sie noch sicher sein, nicht hintergangen zu werden.
Inzwischen lugte Sofia aus ihrem Versteck hervor und schien sichtlich damit beschäftigt, die Situation zu verarbeiten. Dann sprang sie auf und rannte auf den Prinzen zu.
„Komm ihm nicht zu nahe!", rief Leo, und Sofia erstarrte.
„Was soll das?", fragte der Prinz ungehalten. „Hast du Angst, dass ich sie mit meinen bloßen Händen erdrossel?"
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Die vergessenen Straßen
RomanceLeos Familie ist bitterarm. Ihre Mutter ist schon lange gestorben, ihr Vater verdient nicht genug, um seine beiden Töchter zu ernähren, und wäre nicht Leos kleine Schwester, hätte Leo wohl nichts lebenswertes in ihrem Leben. Immer wieder muss sie st...