➓ Die Toten

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"Das ist es?"

"Das ist es."

Langsamer als sonst fuhr ich den Schotterweg entlang, hinauf zu meinem Haus. Jeder Meter machte mir Angst. Yves würde mein Haus sehen, nein, noch mehr, er würde es betreten, darin schlafen. Und wenn ich Glück hatte würde er sehen, wie verrückt ich war, früher abreisen und ich könnte aufhören immerzu an ihn zu denken.

Noch 30 Meter. Ich schaute stur gerade aus. Trotzdem spürte ich den Blick. Yves Blick. Dr. Delunes' Blick. Den Blick seiner bernsteinfarbenen Augen. Ich bekam Gänsehaut. 

Noch 20 Meter. "Ich bin mir sicher ihm hätte es hier gefallen."

Noch 10 Meter. "Du kanntest ihn nicht.", war meine unterkühlte Antwort.

Wir hielten an. "Soll ich dir mit den Sachen helfen?"
"Ich hole sie morgen einfach.", wir stiegen aus, Yves nahm seine Tasche von der Rückbank und wir gingen die letzten Meter bis zu den zwei Stufen, die zur Veranda führten. 

"Gehen wir auch rein, oder stehen wir nur hier?"

Ich drehte mich zu meinem ehemaligen Psychologen und sah ihm in die Augen, was ich nicht oft tat. Augen sind das Fenster zur Seele sagt man. Meine Seele ist zerissen worden, und vielleicht habe ich einfach Angst sie zu zeigen. Meine Verletzlichkeit zu zeigen.

"Dieses Haus ist mein Haus. Ein Haus für Geisteskranke. Willst du da wirklich rein?"
"Louna Noa Fey. Ich bin für dich hier her geflogen. Ich bin mir der Sache bewusst."

Sobald er meinen ganzen Namen aussprach kehrte das seltsame Gefühl in meinem Bauch zurück. Es zog, es schmerzte, als würde ich gleich alle meine Gefühle erbrechen.

"Okay.", ich ergab mich. Ging hinauf, öffnete die Tür und schleppte mich auf meinen viel zu langen, schwachen, dünnen Beinen in mein Haus. Ich sah nicht nach, aber ich hörte wie Yves mir folgte und die Tür hinter sich schloss.

"Das ist es.", erklang seine Stimme, dichter an meinem Ohr als erwartet. Ich zuckte leicht zusammen und machte schnell einige Schritte in das Zimmer. Im Erdgeschoss befand sich das Wohnzimmer und daneben die Küche. Oben hatte ich ein Bad und ein Zimmer für mich. Es gab auch noch den Raum unter dem Dach, diesen verwendete ich jedoch nur als Galerie. Keine Möbel außer ein Stuhl würde man dort finden. 

"Wo schlafe ich?"
"Ich dachte da an die Couch. Man - kann sie aufklappen."
Er lächelte und wir gingen durch den Raum zu meinem Sofa. "Du hast sogar einen Fernseher..."
"Ich lese lieber. Aber danke."

"Was ließt du gerade?"
"Die Toten, von James Joyce. Im Moment.", sagte Yves.

Ich kannte das Buch. Verwirrt und mit den Gedanken ganz woanders setzte ich mich hin. Ich spürte wie das Sofa neben mir ein Stück einsackte, Yves hatte sich gesetzt. "Louna?"

'Die Toten' ist eine Geschichte über das Ehepaar Gabriel und Gretta. Gabriel singt an einem Abend ein Lied für sie und ihre Gäste. Als seine Frau zu weinen beginnt fragt er was los sei.

Gretta erzählte ihm, dass ihre Jugendliebe ihr einmal dieses Lied gesungen hatte. Er war Nachts schwer krank vor ihr Haus gekommen und hatte es ihr als Abschied gesungen. Nachdem sie ihn Heim geschickt hatte starb er und sie gab sich selbst die Schuld an seinem Tod. 

Nachdem Gretta Gabriel davon erzählt hatte wusste er, dass sie diesen toten Jungen liebte. Und er selbst immer nur ein Lückenfüller gewesen war. Die Geschichte endet mit dem Satz „Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und Toten."

Und diese Geschichte laß er. Sie war so ähnlich der meinen Geschichte. Und so traurig die Wahrheit war. Ich würde nie jemanden mehr lieben als meinen Tag. Meine Sonne. Ihn. Nicht nur meine Jugendliebe. Meinen Seelenverwandten.

Sofort sah ich Yves anders an. "Wieso bist du hier?"

Und er schien zu sagen was er meinte. "Ich möchte es endlich verstehen. Dich verstehen."

"Du kannst mich nicht verstehen...", presste ich mühsam hervor. Es war als würde eine unglaubliche Last auf meine Lunge drücken. Ich krallte die Fingernägel in das nicht beneidenswerte Kissen. "Bei dem versuch eine Verrückte zu verstehen könntest du selbst verrückt werden."

"Dieses Risiko werde ich dann wohl eingehen müssen."


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Ich weiß, ein langweiliges Kapitel, aber ich musste erstmal die Ankunft schreiben sonst komm ich hier nicht weiter :) Wie hat es euch gefallen?

Lasst Kommentare und Votes da ♥

lg. Honey

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