Tag 0 - Die Chance, die Bedingung und der Fall

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Ich öffnete die Augen und sah... Leere. Pure Leere. Der Boden unter mir war glatt und kalt wie Glas. Ich blinzelte und drehte den Kopf nach rechts. Das erste, was mir ins Auge fiel, waren meine weißblonden Haare mit den blau gefärbten Spitzen, die wie ein Fächer über den Untergrund, auf dem ich lag, ausgebreitet waren.
Wo war ich?
Mit einem erschöpften Stöhnen stützte ich mich mit einer Hand ab und drehte mich auf die Seite.
Erst da bemerkte ich, dass der glasartige Boden unter mir wirklich Glas war. Ich konnte von hier aus wie aus einem Flugzeug heraus auf Wolken, Wälder, Täler und Meere blicken. Das Glas hielt mich davon ab, zehntausende von Metern nach unten auf die Erde zu stürzen.
„O Gott!", presste ich zwischen den Zähnen hervor. Ich traute mich nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Mein hektischer Atem zeichnete sich in Kondenswasser auf dem kühlen
Glas ab.

„Es wird nicht brechen", sagte eine ruhige Stimme hinter mir. Ich hätte gerne einen Blick über die
Schulter geworfen, doch meine Muskeln waren wie erstarrt.
„Und wenn doch würde es dich sowieso nicht töten. Du bist längst tot. Erinnerst du dich?"
Ein paar unscharfe Bilder von einem Autounfall zeichneten sich vor meinem inneren Auge ab und
wurden immer besser erkennbar. „Doch. Ich... Ich habe diesen Jungen von der Straße gestoßen und bin vom Lastwagen erwischt worden."
Meine Muskeln entspannten sich wieder, so als würde eine riesige Last von mir abfallen. Ich stützte mich erst vorsichtig auf die Knie und stand irgendwann sicher auf beiden Füßen.
„Ist das der Himmel?", fragte ich etwas skeptisch und sah die Person hinter mir an. Es war ein junger Mann. Seine schwarze Kleidung bildete einen starken Kontrast zu dem ganzen Weiß um uns herum. Zuerst dachte ich, er sei ein Engel, doch welcher Engel trug schwarze Kleidung? Flügel hatte er ebenfalls keine. Er, die grün-blaue Erde unter uns und meine Haarspitzen waren die einzigen Farbtupfer, denn nicht nur mein Haar war sehr hell, sondern auch meine Haut und am Körper trug ich ein weißes, lockeres Kleid, das an die Kluft in Krankenhäusern erinnerte, nur das es hinten nicht so zugig war.
„Nein." Er lächelte. „Es ist so etwas wie das Vorzimmer zum Himmel. Der wirkliche Himmel liegt jenseits."
„Aber warum bin ich hier? Müsste ich nicht längst dort sein?", fragte ich. Nie hätte ich gedacht, dass ich dieses Gespräch je führen würde. Ich dachte immer, wenn man tot ist, ist man tot und das wars. Aber jetzt stand ich auf einer unendlichen Glasplatte, schaute auf die Erde und redete mit einem merkwürdigen Typen über den Himmel.
„Du hast dich für einen anderen Menschen geopfert, den Himmel hättest du eigentlich sofort
verdient, aber... Vor dem Unfall warst du eher ein Kandidat für die Hölle", erklärte der Mann. „Jetzt stehst du zwischen beiden Optionen."
„Moment. Es ist nicht klar, wohin ich komme?", hakte ich nach.
Der Mann nickte.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen. „Schlimmer kann es echt nicht mehr werden", erschallte es
gedämpft durch meine Hände. „Das ist alles so krass. Vor ein paar Stunden war noch alles normal und jetzt schnacke ich mit irgendeinem Typen über den Wolken über den Himmel und die Hölle."
„Ich bin nicht irgendein Typ", stellte der Mann klar. „Ich bin ein Götterbote und ich heiße Obadiah." Er hielt mir in einer neumodischen Geste die Hand hin, was gar nicht zu seinem alten Namen passte.
Zögerlich nahm ich sie. „Leann."

„Gut, Leann, wir haben nicht viel Zeit: In nicht mal einer Viertelstunde ist in San Francisco Mitternacht", sagte er. Plötzlich war er ganz ernst geworden. „Das himmlische Gericht kann dich weder in den Himmel, noch in die Hölle stecken, weil es gerecht bleiben muss. Deshalb wirst du in den Körper eines anderen Menschen gesteckt. Du kannst seine Gedanken hören und er deine und du hast immer vierundzwanzig Stunden Zeit, um deine Chance zu nutzen und das Leben dieses Menschen wieder geradezubiegen. Dann erhält er seinen Körper für vierundzwanzig Stunden wieder zurück. Erst danach hast du wieder die Kontrolle über ihn. So geht das abwechselnd einen Monat lang und der, der am besten abschneidet, gewinnt den Körper und darf weiterleben."
„Warum kann ich nicht einfach auf der Erde bleiben?", fragte ich.
„Erstens, weil es dann auf der Erde vor verlorenen Seelen nur so wimmeln würde und zweitens,
weil du für immer dort gefangen sein würdest, dazu verdammt, von niemandem gehört oder
gesehen zu werden." Er nahm meine Hand, was mich sofort beruhigte, und ging mit mir ein paar Schritte nach vorn.
„Das ist deine Chance auf ein zweites Leben. Vermassel es nicht", sagte er, sah mir mit seinen pechschwarzen Augen tief in meine, setzte zum Sprung an und sprang einmal hoch. Schon als er noch in der Luft war, wusste ich, was passierte.

Er kam mit großer Wucht auf dem Glas auf und es wurde von Rissen durchzogen, die ihr Zentrum
unter mir und ihm fanden. Seine Hand ließ mich los und die Sicherheit, die er mir vorher mit jeder
Berührung vermittelt hatte, war komplett verschwunden. Es knackte und und ich spürte, dass das Glas unter mir von weiteren Rissen durchzogen wurde.
„Du hast gesagt, es würde nicht brechen!", schrie ich vorwurfsvoll. Meine Augen fanden Obadiah und er sah regungslos dabei zu, wie ich panisch versteift auf dem brechenden Glas stand.
Das Einzige was ich tun konnte, war die Augen zusammenzukneifen und zu schreien, während das Glas unter mir vollends nachgab und ich nach unten in die Tiefe stürzte.

Zwischen Himmel und HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt