Dieser Moment wenn man einfach nicht wegsehen kann. Wenn etwas so schrecklich ist, dass man es nicht sehen will, aber man trotzdem nicht die Macht hat, den Kopf zu drehen oder wenigstens die Augen zu schließen.
Blut.
Überall ist Blut. An seinen Händen, auf seiner kleinen Kinderbrust, auf dem Parkettboden, in Schlieren geschmiert und der Teppich damit getränkt. Der Teppich unter ihm, mit Blut vollgesogen, dunkel, fast schwarz. Auf dem weißen Parkett ist das Blut rot. Sie wusste nicht, dass es so rot sein konnte, so hellrot wie Rosen, die auf das Parkett tropfen und zerplatzen. Es ist wunderschön. Sie kniet im Blut, ist selbst voll damit und es ist so heiß. Alles ist heiß, die Luft, das Blut, ihre Tränen. Alles außer sein Körper.
Stumm blickt sie hoch, in seine toten grauen Augen. Er starrt sie direkt an, so wie er es immer getan hat. Er hat mit aufmerksamen, direkten Blick gelebt. Hellblonde Wimpern umrahmen als dichter Kranz seine runden Augen, die Iris ist verschleiert, trotzdem hängt noch ein Hauch Leben in ihnen, wie der dünne Rauchfaden, der in die Höhe steigt und sich immer mehr verflüchtigt, wenn man eine Kerze ausbläßt. Seine Augen haben die gleiche Farbe wie ihre und in diesem Moment wirken sie auch fast so tot wie seine.
Sie fährt mit ihren Händen durch das Meer aus Blut. Purpurne Gischtkämme, mahagonifarbene Wellen und karminrote Flut. Als sie die Hände herauszieht, laufen blutrote Fäden an ihren nackten Armen hinunter wie Regen an einer Fensterscheibe und die Tränen an ihren Wangen.
Der kleine Junge, der da als Leiche vor ihr liegt, ist ihr Bruder. Sein Name ist Neo und er ist anders. Schlauer, reifer, ernster. So wie Neo sollten keine Kinder sein. Das war ein beliebter Satz von vielen Eltern: „Denk nicht so viel nach, sonst wirst du noch so wie Neo." Doch niemand würde je wieder wie Neo sein. Denn er ist tot, seine Flamme wurde ausgepustet. Sie wusste nur nicht von wem.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sei schon hier kniete, wie viel Zeit verstrichen ist. Das einzige was sie weiß ist, dass die Rosen langsam dunkle Ränder bekommen, als ob sie verwelken und etwas von ihrer Schönheit einbüßen.
Sie muss etwas tun. Sie will nicht atmen, nicht zurückgehen, hier bleiben, weggehen. Nichts von all dem. Doch sie muss.
Sie schließt die Augen. Reiß dich zusammen, du weißt was zu tun ist. Als sie aufsteht, tränkt das Blut von ihren Knien aus alles, bis es in ihre Schuhe läuft und jeder Schritt macht quietschende Geräusche und hinterlässt rote Spuren auf dem weißen Parkett. Der Flur ist lang, aber sie muss weg. Kann nicht klar denken, mit ihm in der Nähe. Sie ließ sich auf die niedrige Bank sinken, dann aktivierte sie das Implantat und es erkannte sofort ihren körperlichen Zustand. Stark erhöhte Herzfrequenz. Blässe. Von einem kalten Schweißfilm überzogene Haut. Verwirrtheit. Beschleunigte Atmung. Schock.
Automatisch wählt das Implantat den Notruf, alle nötigen Informationen werden einfach aus ihrem Hirn abgezapft, sodass sie nichts mehr tun muss, als zu warten. Dann beginnt eine ruhige Frauenstimme in ihrem Kopf zu sprechen, während sie an die weiße Wand starrt. So weiß wie Porzellan...
„Juno ... Juno! Alles ist gut ... Hilfe ist unterwegs. Beruhigen Sie sich ... Es wird alles gut gehen. Hilfe ist unterwegs ... Juno. Es wird alles gut, aber bleiben sie ruhig ..."
Die Tür wird schlagartig aufgerissen und Juno ist nur stumme Beobachterin. Verklebte, dunkelrote Haarsträhnen hängen in ihrem Gesicht und sie spürt frische Tränen, die Gräben in das verkrustete Blut auf ihrem Gesicht ziehen und rot auf ihre verkrampften Hände fallen. Das Blut würde sie nie wieder unter den Fingernägeln hinausbekommen und auch aus keiner einzigen Pore ihrer Haut mehr.
Irgendwann legt eine gelbuniformierte Sanitäterin eine metallene Wärmedecke um sie und Juno versucht ihren Kiefer, dessen Zähne bis jetzt fest aufeinandergepresst waren, zu entspannen und ihr Zittern zu kontrollieren. Dann sieht sie, wie immer mehr Sanitäter an ihr vorbeieilten und nach einer Ewigkeit oder einigen Sekunden wiederkamen. Auf einer Trage zwischen zwei Männern lag eine Kindergestalt.
Zugedeckt. Heraus guckte nur eine kleine Hand, verkrustet vom Blut und seltsam verbogen.
Juno versuchte sie zu fassen. Zu schreien. Sie bäumte sich auf, streckte sich nach der Hand ihres Bruders. Doch da wurde er durch die Tür getragen und verschwand als graues Schemen.
Er würde niemals mehr als eine Erinnerung sein. Für niemanden. Nicht für Juno, nicht für seine Eltern, Lehrer, Freunde. Für niemanden etwas wichtigeres als Vergangenheit, und für manche nicht mal das.
Er würde niemals Gegenwart sein. Oder Zukunft.
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Filia - Morbus
Science Fiction"Jemanden zu finden ist leicht, wenn dieser jemand gefunden werden will. Aber wenn nicht, und wenn man nicht weiß, wen man sucht, wird das Ganze unmöglich, oder?" Zwei Welten, so verschieden wie Tag und Nacht. Juno lebt in der Welt, in der alles pe...