3. Elternliebe und Sesamthunfisch

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Als ob alles in dreifacher Geschwindigkeit geschehen würde, wurde ich plötzlich in die Brust meiner Mutter gedrückt und rumgeschleudert wie ein Püppchen. Das hatte man davon, wenn man nur 1,62 groß war und unter 50 Kilo wog.

Ich versuchte keinen gequälten Gesichtsausdruck zu machen, als sie mich eine Armeslänge von sich entfernt hielt. „Lass dich ansehen! Meine Güte, du wirst immer hübscher und hübscher..." Mein doch ziemlich vernichtender Blick bewegte sie schließlich dazu, mich vollends loszulassen und ich umarmte meinen Vater zögerlich und verhalten.

„Schön euch zu sehen, kommt rein!" Ich bewegte meine Hand in einer einladenden Geste Richtung Wohnungsinneres und hoffte ein halbwegs echtes Lachen hinzubekommen, als ich mich an die Regeln der Höflichkeit erinnerte.

Meine Mutter war sehr groß und ziemlich dick, sodass es ihr schwer viel sich an mir in dem engen Flur vorbei zu drücken. Aber sie war präsent. Immer, wenn sie einen Raum betrat erfüllte sie ihn mit Freude und ihrer Anwesenheit, die dann in jeder Ecke zu spüren war. Auch wenn sie laut und aufdringlich und egozentrisch war, wurde sie von fast jedem gemocht, ja sogar oft verehrt. Wie sie das schaffte, war mir ein Rätsel.

Mein Vater fiel immer in ihren Schatten. Er wirkte neben ihr wie ein kleines Pflänzchen, das durch den großen Baum neben sich nie Sonnenlicht abbekam und langsam verkümmerte.

„Mein Schatz... wir haben dich ja so lang nicht mehr gesehen! Immer dieser lange Weg, durch die ganze Stadt...", begann meine Mutter. Ich lächelte ihr verhalten zu und lotste die beiden ins Wohnzimmer. „Macht es euch erstmal bequem! Das Essen ist noch nicht ganz fertig.". Auf dem Weg zur Küche rutschte ich prompt mit meinen Socken auf dem glatten Parkett aus.

Als das Essen aufgewärmt und auf schönen, uralten Porzellantellern angerichtet war, kehrte ich an den Esstisch zurück, wobei ich mich wie eine Kellnerin fühlte. „Bitte Madam, ihre Miso-Suppe und dazu die Phiole!"

Die Phiolen waren so eine Sache. Die kleinen Gläsfläschen, in denen mandarinengelbe Flüssigkeit schwappte, waren der Grund, warum sich alle in Filia so gut fühlten. Es gab sie an fast jeder Ecke zu kaufen, denn sie mussten vor jeder Mahlzeit eingenommen werden. Verweigerung wäre Hochverrat, und was mit den Verrätern geschah, wusste niemand.

Ich hatte schon früh gemerkt, dass die Phiolen bei mir und meinem Bruder nicht zu wirken schienen, aber mittlerweile hatte ich die Bestätigung. Bei mir änderten die enthaltenen Hormone rein gar nichts. Vielleicht hatte mein Bruder nicht so gut schauspielern können und war deshalb nicht mehr am Leben?

Nach seinem Tod habe ich viel experimentiert und mich mit Leuten unterhalten, sodass ich letztendlich heraus fand, das die mandarinengelben Glücksphiolen in hohen Mengen zu Halluzinationen und sogar irgendwann zum Tod führten.

In Filia konnte so gut wie fast alles in Flaschen kaufen. Glück, Schlaf, Energie... Mittlerweile besorgte ich in allen Läden der Stadt von allem so viel, wie erlaubt war und versuchte dabei nicht aufzufallen. Ein starkes Schlafmittel war die einzige Waffe, die man in Filia bekommen konnte. Ich hatte meine Quellen, aber an Waffen kam selbst ich nicht ran. Hier waren sogar die Messer stumpf.

Die Miso-Suppe schmeckte nach nichts. Trotzdem schlang ich alles so schnell es ging hinunter, denn erstens wollte ich meine Eltern schnell loswerden, und zweitens war ich immer noch angespannt. Wir hatten uns das letzte Mal auf Neos Verbrennung getroffen, dort hatte ich meine Mutter zum ersten Mal weinen sehen. Auch wenn wir uns alle wieder gefangen hatten, spannte das Ganze eine Wand zwischen uns auf, die ich wohl niemals zerbrechen konnte.

In Filia hielt man nicht viel von Trauer. Man begann einfach, sich mit den Glücksphiolen und den darin enthaltenen Hormonen zuzuschütten und vergaß alles so schnell es ging. Auch ich hatte mich mit Schlafmitteln zu gedröhnt, doch Papas graue Augen, die seinen so ähnlich waren und Mamas Lächeln holten alle sorgsam weggeschlossenen Erinnerungen zurück.

Filia - MorbusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt