In diesem Moment, da blieb die Zeit stehen.
Der Schock und der Schmerz drangen tief in meine Eingeweide ein. Wie eine Kugel schossen sie durch alle Gewebeschichten hindurch und setzten sich direkt in meiner Leber fest. Ich wollte meinen Bauch aufreißen, alles zerstören und die Kugel entfernen. Ich verblutete. Aus der Einschusswunde floss bereits ein Strom dunkelroten Blutes wie ein Wasserfall, der sich in meinem Schoß sammelte.
Von meiner Leber aus breitete sich der Schmerz in meinem ganzen Körper aus. Schleichend, wie eine Eidechse auf Beutezug, kroch er in meine Arme, Beine, in meinen Kopf und setzte sich dort fest. Ein Gift, das sich ausbreitet, bis es den ganzen Mechanismus außer Kraft gesetzt hat. Ich wollte den metallenen Geschmack des Blutes auf meiner Zunge schmecken und den Geruch meiner eigenen Haut wahrnehmen.
Wenn ich in der Zeit stehen geblieben war, befand ich mich dann gerade in der Vergangenheit?
Ich stand zwischen den Stühlen, wie Scheidungskinder zwischen ihren Eltern, sterbende Kinder zwischen Leben und Tod, so stand ich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Moment, der nicht mal eine Nanosekunde, aber doch Milliarden von Lichtjahren dauerte, wurde mir einiges bewusst.
Wenn der letzte Ton eines Liedes gespielt wurde, bleibt man noch an der Notenzeile hängen und wartet auf einen zweiten letzten Ton, der nie kommen wird.
Wenn man schon wach ist, aber immer noch vom Traum umnebelt, der sich mit der Realität vermischt.
Die kleinen Härchen auf den Armen, Überbleibsel aus Jahrtausenden von Evolution.
Eiswürfel, die in einem Glas schmelzen und Äpfel, die so reif sind, dass sie vom Baum fallen.
Das Morbus, aus dem keiner je zurückkehrte.
Wir lebten auf einem Planeten, der in zwei Teile gespalten war. Gut und Böse. Weiß und Schwarz. Reich und Arm. Hell und Dunkel. Zukunft und Vergangenheit. Richtig und falsch.
Filia und Morbus.
Im Grunde glich unsere Welt einem Kuchentablett. Na gut, einem überdimensionalem, kreisrunden Kuchentablett mit rund 900km Durchmesser, das aus kilometerdickem Stein, durchsetzt von Unmengen an Erzen und einer Zwischenschicht aus giftigen Gasen bestand. Auf der Oberseite, die die meiste Zeit zur Sonne, genauer gesagt zum Stern Alpha Canis Majoris, ausgerichtet war, wurde Filia gebaut. Prächtig, wunderschön und einzigartig.
Lange Zeit war nur die Oberseite des Planeten bewohnt und alle Menschen lebten in perfekter Harmonie. Doch die Bevölkerung wuchs und wuchs, sodass bald nicht mehr genug Rohstoffe auf der vergleichsweise kleinen Oberfläche vorhanden waren und die Menschheit vor einem Problem stand. Sie spaltete sich in zwei Lager: diejenigen, die nachhaltige Lösungen für ihre Probleme suchen wollten, und die Aggressiven, die versuchten, sich alles noch Vorhandene unter den Nagel zu reißen.
Es entbrannte ein blutiger Krieg um die Rohstoffe, in dem bald jeder nur noch für sich selbst kämpfte und sich die Bevölkerung um ein Vielfaches dezimierte.
Nach vielen Jahren, in denen unzählige Individuen ihr Leben gelassen hatten und fast der ganze Planet zerstört worden war, existierte nur noch eine kleine Gruppe von Menschen, die kurz vor der Auslöschung stand. Endlich begannen sie wieder nachzudenken und erkannten ihre Fehler.
Viele Menschen wollten nicht bleiben, denn in Filia hatten zu viele Leute sterben müssen, es gab zu viele Erinnerungen, die lieber vergessen werden wollten und zu viel Zerstörung. Sie wollten neu anfangen, ihr eigenes Paradies finden und aufbauen. Also machten sie sich auf die beschwerliche Reise ins, bis dahin unbekannte, Morbus.
Die Zurückgebliebenen begannen jedoch, die Städte wieder aufzubauen. Noch perfekter und vor allem sehr viel umweltfreundlicher. Auch wenn noch einige Jahre Hungersnöte das Leben der Filianer bestimmten, führten sie bald ein glückliches Leben, genau wie vor dem Krieg. Allerdings mit sehr viel strengeren Regeln, damit sich so ein Grauen nie wiederholen konnte. Zu dieser Zeit wurden auch die Phiolen entwickelt und zur Pflicht gemacht.
Die Menschen im Morbus hatten nicht so viel Glück. Obwohl die Verständigung mit den Filianern nicht wirklich häufig oder intensiv war, fanden die Filianer einiges über das Leben dort heraus. Es gab durch die Lage an der Unterseite des Planeten nur sehr wenig Sonnenlicht, wodurch ein sehr raues Klima herrschte, sodass auch die Menschen langsam verhärteten. Viele erblindeten, entwickelten aber ein außerordentlich gutes Gehör. Das Volk wurde so eisern wie Morbus selbst und entwickelte einen Hass auf die glücklichen Filianer, da sie mit so viel stärkeren Problemen konfrontiert wurden, bis der Kontakt zu ihnen schließlich ganz abbrach.
Heute war nur noch bekannt, dass Morbus das Böse war. Es herrschte unglaublicher Hass zwischen den beiden Seiten, aber niemand hatte mehr als eine vage Ahnung über die anderen. Für uns war Morbus ein in düsteren Farben gemaltes Bild, das über die Jahre verblichen und verschmiert wurden war, sodass es jetzt nur noch einen schwarzgrauen Fleck, ohne jegliche Details bildete.
Und genau in diesen Fleck würde ich mich jetzt begeben müssen, egal ob ich daran verblutete. Für meinen Bruder.
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Filia - Morbus
Science Fiction"Jemanden zu finden ist leicht, wenn dieser jemand gefunden werden will. Aber wenn nicht, und wenn man nicht weiß, wen man sucht, wird das Ganze unmöglich, oder?" Zwei Welten, so verschieden wie Tag und Nacht. Juno lebt in der Welt, in der alles pe...