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Wieder hatte sie für einen Moment das Gefühl, als würde sie ewig weiterfallen. Und dadurch wirkte es wie schweben. Gerade, weil sie nichts sah außer Dunkelheit, kam ihr der Fall vor wie eine Ewigkeit. Dann landete sie. Wasser umschloss sie, sie konnte für einige Sekunden nicht atmen. Das erwärmte Wasser hatte ihren Fall abgebremst, doch jetzt musste sie schnell an die Oberfläche. Sobald sie diese durchbrach schnappte sie nach Luft. Sie hatte es geschafft. Kurz schwamm sie noch dort, dann hörte sie Geräusche. Jemand öffnete eine Tür und, gefolgt von dem Schein einer Fackel, erschien eine Gestalt etwas neben ihr. Die Tür lag über dem Wasserspiegel, sodass kein Wasser in den Raum dahinter lief. Die Gestalt entpuppte sich als Gyth, die Faith die Hand hinstreckte und ihr aus dem Wasser half. Im Raum hinter der Tür war es warm und hell. Der Raum war nicht groß und besaß eigentlich keine Möbel, bis auf einige Regale mit Tüchern, von denen Gyth sich ein paar nahm und sie Faith überreichte. Die rubbelte sich damit das Wasser aus den Haaren und der Kleidung, bis es wieder einigermaßen trocken war. Eadgyth inspizierte sie kurz, dann nickte sie und schickte sie durch eine andere Tür hinaus ins Zentrum des Hauptquartiers. Die Tür lag in der Nähe der Wendeltreppe, auf der Faith nun schon die ersten Zuschauer erkannte, die ihren Weg zurück begonnen hatten. Als Zoé sie erkannte, rannte sie die letzten Stufen hinab und umarmte Faith. Sie zerdrückte sie beinahe. "Oh mein Gott, ich dachte du wärst tot!" Faith grinste. Zoé war schon immer sehr emotional gewesen, und sie hatte zwischendurch selbst zugegeben dass es teilweise übertrieben war. "Wie du siehst ist nichts passiert. Ich bin mir sicher, das wird bei deiner Zeremonie genauso einfach." Faith lächelte, während Zoé die Umarmung löste und zurücktrat, um nach hinten zu sehen. Zoés Mentorin kam dazu, beglückwünschte Faith zu einer so schnellen Ausbildung und schob ihre Novizin dann fort, mit dem Grund, dass sie morgen beim Training sonst wieder verschlafen würde. Viele der Zuschauer liefen an Faith vorbei, einige beglückwünschten sie ebenfalls und wünschten ihr Schutz und Friede mit auf den Weg, den sie als Assassine gehen würde. Irgendwann lief auch Kadir vorbei. Er schien sich wirklich für Faith zu freuen, und die frischgebackene Assassine wurde den Gedanken nicht los, dass er in ihr ihren Vater wiedererkannte. Er sprach sie auch darauf an, nachher nochmal mit ihr sprechen zu wollen. Das kam Faith nicht gerade ungelegen, denn gerade jetzt, wo Asha nicht mehr da war, wollte sie ihm ihre Entdeckung zeigen.

Nachdem die meisten wieder verschwunden waren - immerhin war es mitten in der Nacht - sprach Gyth sie erneut an. "Ich kann dich gleich zu deinem neuen Zimmer bringen. Hol schnell deine Sachen aus dem alten." Faith nickte und lief die Treppe hinunter zu den Novizenräumen. Irgendwie ein schrecklicher Gedanke, Zoé in dem Zimmer so allein zu lassen. Aber sie würde sicher auch bald zum Assassinen ernannt werden. Faith hatte nicht viel, das sie holen musste, eigentlich nur die Papiere von Esida. Alles andere trug sie meistens bei sich - auch den Dolch ihres Vaters. Auch ihre Schlafkleidung nahm sie mit. Mit vollen Händen lief sie wieder zurück nach oben, wo Gyth geduldig auf sie wartete. "Sehr gut, komm." Die junge Frau lächelte leicht und lief los. Die Assassinenräume lagen eine Etage höher, das hieß sie mussten eine kleine Treppe nach oben nehmen. Ein Gang, der zu der einen Seite hin offen war und sie nur durch eine Steinmauer davon abhielt, hinunter ins Zentrum springen zu können, führte an einigen Türen im selben Abstand entlang. Einen davon öffnete Gyth. Der Raum war nicht größer als Faiths alter, aber dadurch, dass er nur für eine Person war, reichte er vollkommen aus. Gyth verabschiedete sich nun auch und schloss die Tür hinter sich. Faith legte die Papiere wieder unters Kissen, entledigte sich ihrer Waffen und tauschte die Montur gegen ihre Schlafkleidung. Der Schlaf war ihr sehr willkommen, denn die letzten Tage waren anstrengend gewesen. Nicht nur für den Körper sondern auch für die Seele.

Noch bevor sie richtig eingeschlafen war schreckte sie wieder hoch. Verdammt, sie musste noch zu Kadir! Das hatte sie vollkommen vergessen. Schnell zog sie sich ihre Montur wieder an, ließ die meisten Waffen aber stehen um Zeit zu sparen. Wieso konnte sie nicht einmal guten Gewissens ein Auge zutun? Mit einem leisen Seufzer zog sie die Kapuze auf und lief aus dem Raum. Ein zweites Mal an diesem Tag machte sie sich auf den Weg zu Kadirs Zimmer. Nun war es wirklich beinahe menschenleer im Zentrum. Es war dunkler als sonst, denn viele Fackeln waren gelöscht worden. Alle mussten in ihren Betten liegen. Hoffentlich war der Großmeister noch wach... Leise klopfte Faith an die Tür des Zimmers und sah sich kurz um. Nachher weckte sie noch jemanden in der Nähe damit. Es dauerte einige Zeit bis die Tür geöffnet wurde. Kadir ließ sie herein, bedeutete ihr aber, ruhig zu sein. Faith nickte und setzte sich dieses Mal direkt auf den Stuhl, während Kadir die Tür wieder leise schloss. Nun sollte man außen nicht mehr allzu viel hören, sodass sie in normalem Ton sprechen konnten. "Nun, Faith, ich hoffe der Schlafmangel wird nicht zu groß?" Kadir grinste leicht. Seine Gesichtszüge zeigten mehr Müdigkeit als Faith sie spürte. Der Großmeister setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber, er hatte sicher noch lang nicht vor, zu schlafen. "Sicher nicht. Gyth hat mir erzählt, dass du sie auf das Amulett hin angesprochen hast. Hast du denn etwas herausgefunden?" Faith verfluchte sich in dem Moment dafür, nicht an die Papiere gedacht zu haben. "Nun. Ja, Asha hat aus einem der Briefe eine Geheimbotschaft herauslesen können. Der Brief war von Gavin und... er schrieb, dass er das Amulett an Benji weitergegeben hatte. Weil er glaubte, es gäbe einen Spion unter ihnen... Wenn ich das recht bedenke, könnte es auch ein Ablenkungsmanöver gewesen sein..." Faith verfiel in eine Grübelei, in der sie probeweise die Tatsachen verschob und gegeneinander abwog. Kadir lauschte weiter gespannt. "Wusstet Ihr von dem Spion?", wandte sie sich dann an den Großmeister und runzelte nachdenklich die Stirn. "Oh, ja. Es gab viele davon. Nicht nur von den Templern." Faith nickte langsam. Dann war beides möglich. "Und, habt Ihr jemals mitbekommen, dass er es Benji übergeben hat?" Kadir schüttelte den Kopf. "Nein, nie." Vielleicht war es dann ja doch eine Ablenkung gewesen? Eine Verwirrung? Aber er hätte es ja nicht bemerken müssen... "Denkt Ihr, dass Benji es vielleicht irgendwo versteckt hat, bevor er von den Templern getötet wurde?" Kadir fuhr sich müde übers Gesicht, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. "Gut möglich. Diese Botschaft scheint mir zu viele Fragen offen zu lassen. Hast du noch eine andere Spur?" Faith sah ihn verständnislos an. "Meine Mutter und meine Tante wären die einzige andere Spur gewesen, und wenn sie nicht im Gefängnis waren, dann ist diese Spur verloren..." Und mit ihr das Leben der beiden Frauen, denn die Templer würden sie nicht ewig am Leben lassen. "Ich bin mir sicher, dass sie es nicht waren. Ich habe beobachtet, wen sie aus den Zellen geholt haben. Männer und Frauen, sogar ab und an reiche Leute aus hohen Positionen - aber Ríona und Esida habe ich nie gesehen. Und ich habe bei jeder einzelnen Zelle gesehen, wen sie herausgebracht haben." Gerade wollte Faith antworten, als es an der Tür klopfte. Zwei Assassinen betraten das Zimmer. "Ihr habt uns rufen lassen, Meister?" Kadir nickte. "Ihr habt meine Nachricht erhalten?" Die beiden nickten. "Ja, Meister", antwortete der größere der beiden, der andere, so bemerkte Faith mit einer Spur Misstrauen, starrte sie einige Zeit an. Doch im Schatten der Kapuze konnte sie dessen Miene nicht entziffern. Welche Nachricht sie wohl erhalten hatten? Den Brief, den Kadir verfasst hatte, vielleicht? Aber das waren nur reine Vermutungen, die Faith da anstellte. Und das auch nur aus reiner Langeweile. Die beiden jungen Männer stellten sich etwas neben dem Schreibtisch in den Raum. "Was tun die beiden hier, Meister?", fragte Faith mit ruhiger Stimme, um ihre innere Unruhe zu verbergen. Sie klammerte sich am Sitz ihres Stuhls fest und biss die Zähne zusammen. "Keine Sorge, Faith, es hat nichts mit dir zu tun... Nun ja, fast nichts. Jetzt nicht mehr." Faith sah ihn nur verwirrt an. Was redete er da? War das die Müdigkeit? Hatte er etwas getrunken? Ihre Verwirrung sollte im nächsten Moment noch zunehmen, denn erneut klopfte es an der Tür. Faith verkniff es sich, überrascht nach Luft zu schnappen, als Cade in der Tür erschien. "Meister, Ihr..." Er unterbrach sich selbst, als er die Männer und dann Faith im Raum bemerkte. Er trat näher, und Faith rückte unwillkürlich etwas fort. Sie wusste nicht, was hier vor sich ging. Vermutlich war sie zur falschen Zeit am falschen Ort, doch wie würde sich das auswirken? "Was ist hier los? Was plant Ihr?", fragte Cade sofort harsch und wandte sich mit funkelnden Augen an Kadir. Faith wusste nicht, was sein Blick aussagte. Er erinnerte sie irgendwie an ein gefangenes Tier, das nicht wusste, wie es entkommen sollte, und deshalb den Wärter angriff. Seine Körpersprache drückte Wachsamkeit genauso aus wie kalte Wut. Er war angespannt, und Faith wusste nicht, wieso. Sie verstand die ganze Sache hier nicht. Kadir dagegen war ruhig und entspannt wie immer. Er lehnte sich zurück und lächelte genüsslich. "Cade. Kein Grund gleich so angriffslustig zu werden. Hier will dir doch niemand etwas Böses." Cade warf einen kurzen, einschätzenden Blick auf die beiden Assassinen. "Ach, nein? Dann erklärt mir, wieso Ihr mich mitten in der Nacht ohne jeden Grund hierherbestellt." Er verschränkte die Arme und wartete ab. Kadir erhob sich. "Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf. Immerhin habe ich dich vor Jahren hier aufgenommen. Aber das erstmal beiseite... Wie kommt es, dass du, Sohn eines Assassinen, aufgezogen hier im Quartier, trainiert in unseren Lehren seit du denken kannst und loyal wie kein anderer..." Die Spannung im Raum stieg. Während Cade den Meister unverfroren ansah, näherten sich die zwei anderen Assassinen ihm, einer von rechts hinten und einer von links. "...sag mir, wie kommt es, dass gerade du uns verrätst?" Das war das Stichwort. Cades kurze, geschockte Starre nutzend griffen die Assassinen nach seinen Armen und drehten sie ihm auf den Rücken. Faiths Herz klopfte ihr bis zum Hals. Was ging hier vor? Was tat Kadir da? Cade, der sich sofort aus Instinkt anspannte, wehrte sich jedoch nicht. Er schien zu wissen, was los war. Faith sah zu Kadir. Langsam drangen seine Worte zu ihr durch. Cade... der Verräter? Hatte der Templer wirklich die Wahrheit gesagt? Und wer hatte Kadir von dem Verdacht erzählt, wieviele hatten davon gewusst? "Nehmt ihm die Waffen ab", befahl Kadir mit dunkler Stimme. Cade betrachtete den Großmeister nur mit kühlem, abschätzenden Blick. Was würde er als nächstes tun, was war sein Ziel? Die beiden Assassinen nahmen ihm die wenigen Waffen ab, die er jetzt noch bei sich trug. Der eine von ihnen löste die versteckte Klinge von Cades Unterarm und überreichte sie Kadir. Der wog die Waffe kurz fast schon wehmütig in der Hand und sah dann wieder zu Cade. Der stand immer noch aufs höchste gespannt und mit erhobenem Kinn da. Faith fühlte sich wie ein Zuschauer, als wäre sie gar nicht mehr im Raum. Sie war mit dem Stuhl bis zur Wand gerückt und verfolgte die Szene mit klopfendem Herzen. Kadir lief nun um den Tisch herum um Cade die versteckte Klinge vor sie Nase zu halten. "Bedeutet dir das denn gar nichts? Deine Brüder? Die Assassinen waren dein Leben! Sag mir, wieso hast du das getan?" Cade schwieg verbissen. Er presste seine Lippen aufeinander, um nicht in unschöne Beschimpfungen auszubrechen. Sein Schweigen provozierte den Großmeister jedoch noch weiter. Der riss ihm nun die Kapuze vom Kopf und starrte ihm in die Augen. Während Cade mit kaltem, gleichgültigem - ja fast entspanntem Blick dastand war Kadirs voller Emotionen. Das war verständlich, wenn er Cade, wie er vorhin gesagt hatte, als er klein war aufgenommen hatte. Enttäuschung, Wut, Frustration. Und vermutlich vieles mehr. "Sprich!", verlangte Kadir und ließ die Hand mit der versteckten Klinge sinken. "Ihr habt Euch also dem Gift der Schlange ausgesetzt. Habt Ihr Euch gewehrt oder Euch einfach damit abgefunden?", erwiderte Cade nun kalt. Seine Augen blitzten kurz hasserfüllt auf. Kadir schien kurz aus dem Konzept gebracht worden zu sein. "Von was zur Hölle redest du da, Verräter?", erwiderte er mit einer solchen Lautstärke, dass Faith befürchtete, das ganze Hauptquartier könnte davon wach werden. "Ich bin nicht der Verräter, doch das Gift lässt Euch etwas anderes glauben. Nur leider habe ich das Gegengift nicht..." Kadirs Gesicht wurde tiefrot. "Hör auf in Rätseln zu sprechen!" Ja, Kadirs Geduldsfaden war gerissen. Das hatte Faith bei ihm noch nie erlebt. "Bringt ihn weg, ich will ihn nicht mehr sehen! Er soll in den Zellen verrotten bis wir ein passendes Urteil gefunden haben." Gerade wollten die Assassinen Cade aus dem Zimmer bringen, als ein gehetzt aussehender Milwyn in den Raum stürmte. Er stolperte kurz, fing sich aber wieder und stützte sich am Schreibtisch ab. Was gerade im Raum stattfand schien er nicht zu bemerken. Der dürre Mann war außer Puste, sein Gesicht war vor Furcht verzerrt und Schweißtropfen verrieten, dass er gehetzt gerannt war. "Meister! Meister! Ich hatte gerade Nachtschicht da..." Er verschluckte sich beinahe, so schnell sprach er. Er atmete mehrmals ein und aus. "Ich habe gerade oben am Ausgang entlangpatrouilliert, als ich sie gesehen habe!" Kadir versuchte, beruhigend auf den Mann einzusprechen. Er hob die Hände. "Atme tief durch. Was hast du gesehen?" Der Mann schien jedoch keine Zeit zu haben, tief durchzuatmen, und antwortete sofort und in einem Atemzug: "Eine Templerarmee! Eine riesige! Und sie hält direkt auf den Berg zu!" Kadirs Miene veränderte sich schlagartig von gelassen in alarmiert. "Eine Templerarmee? Geh und weck alle! Jeder muss sich bewaffnen. Eine Schlacht steht bevor. Wir haben den Vorteil der Festung." Hastig nickte der Mann und rannte ebenso schnell wieder aus dem Zimmer. Faith sah ihm entsetzt hinterher. Eine Armee der Templer? Wie hatten sie das Hauptquartier gefunden? Ihr Blick wanderte zu Cade. War ihr alter Mentor wirklich ein Verräter? Hatte sie das während dieser ganzen Zeit nie bemerkt? Auch Kadir sah nun wieder zu Cade und den Assassinen, die ihn festhielten. Die beiden zögerten. Sollten sie den Gefangenen immer noch nach unten bringen? "Meister?" Kadirs plötzliches, beinahe wölfisches Lächeln schien den kleineren von ihnen etwas zu verunsichern. Auch Cade blieb dieses Lächeln nicht unbemerkt, er hatte seinen Mund inzwischen zu einem schmalen Strich verzogen. "Du...", begann er bedrohlich, "den Templern wird es sicher nicht gefallen, wenn wir sie mit ihrem eigenen Mann erpressen." Dann wandte er sich an die Assassinen. "Folgt mir." Der Großmeister zog sich seine Kapuze über und lief aus dem Raum. Faith, die nicht untätig im Raum sitzen bleiben wollte, folgte den vieren einfach. Im Zentrum herrschte nun heller Aufruhr. Alarmglocken wurden geläutet, alle bewaffneten sich oder nahmen oben an den Wehrgängen Platz, von wo aus man Pech und Steine auf die Feinde herabregnen lassen konnte. Kadir suchte sich zielstrebig seinen Weg durch die Menge, bis er am Tor ankam, das nach draußen in die äußere Höhle führte. Die Assassinen schoben Cade nicht gerade vorsichtig hinterher, doch der Gefangene knurrte nur ab und zu, wenn einer von ihnen ihn grob nach vorn stieß. Gerade lief Gyth zu ihnen, genauso wie einige andere. Die meisten waren Meisterassassinen, Cyril war auch unter ihnen. Immerhin waren sie alle eben noch wach gewesen. "Was ist passiert?" Es herrschte allgemeine Unruhe, niemand wusste bis jetzt genau, wieso sie mitten in der Nacht kampfbereit sein mussten. "Meister, was ist los?" Auf den Wehrgängen postierten sich nun Assassinen mit Pfeil und Bogen oder Armbrust. Unten vor dem Tor bildete sich ebenfalls eine große Masse an Kämpfern. "Wir werden angegriffen. Eine große Templerarmee hält auf den Berg zu. Vielleicht..." Kadir warf einen Seitenblick auf Cade. "...kann ich sie noch zu einem Handel überreden", erklärte er nun laut, sodass es die vielen Geräusche übertönte, mit denen die Höhle gefüllt wurde. Angespannt standen sie da, abwartend, nicht wissend was der Feind außen tat und von wo er kam. Kadir hatte Cades versteckte Klinge weggesteckt und ignorierte den Gefangenen nun. Der stand nur mit gesenktem Kopf da, sodass ein tiefer Schatten sein Gesicht bedeckte. Faith hatte sich ebenfalls zu den Leuten vorn dazugestellt. Wenn die Templer angriffen, war das der gefährlichste Platz, doch sie wollte nicht verpassen, wie es weiterging. Irgendwann entstand Stille, nur ab und zu durchbrach noch etwas das allgemeine Schweigen. In der Luft lag eine gewisse Vorahnung, Befürchtungen und Wachsamkeit. Jeder war aufs Höchste angespannt, alle Sinne waren geschärft. Immer noch Stille. Dann erklangen die gleichmäßigen Geräusche von im Gleichschritt marschierenden Soldaten. Es hallte in der Höhle wider und verstärkte sich. Die Assassinen hielten gespannt die Luft an. Was würde nun folgen? Wieviele waren es wirklich? Immerhin saßen sie hier in der Falle, eingeengt wie eine Maus in ihrem Mauseloch, während die Katze vor dem Ausgang saß. Faiths Herz klopfte unkontrolliert, sie starrte auf den Höhlengang direkt vor ihr. Im Quartier war längst wieder alles beleuchtet worden, doch draußen in den Höhlen war es dunkel. Dann erschienen Lichter. Lichter von Fackeln schienen aus den Höhlen und kamen immer näher. Die dröhnenden Schritte wurden lauter. Entweder das Echo verwirrte sie, oder es kamen wirklich von überall Templer. Es war eine Zeit des Verharrens, in der sie nicht wussten, was kam. Dann erkannten einige bereits die ersten Männer in Rüstung im Tunnel, die mit Fackeln in der Hand unaufhörlich weiterliefen. Sie hatten den größten Höhlenzugang benutzt, den am meisten bewachtesten. Irgendwann wurde den Assassinen das Ausmaß der Armee klar. Ganz vorn ritt unverkennbar Alistair, der seine Truppen auf einem dunklen, robusten Streitross anführte. Keiner der Templer hatte bis jetzt seine Waffen gezückt, doch es erschienen immer mehr in der Höhle. Es schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Als Alistair, in einer dicken, schimmernden Rüstung, sein Pferd in einigen Meter Abstand von Kadir anhielt, stoppten auch die Reihen seiner Männer neben und hinter ihm. Faith sah nach links und rechts. Überall Templer. Sie schluckte. Was wollten sie? Die Assassinen vernichten? Noch nachdem Alistair angehalten hatte rückten weitere Männer nach. Es waren hauptsächlich Bodentruppen, Fußvolk, etwas anderes hätte hier keinen Sinn gemacht. Alistair nahm seinen Helm ab, um besser sprechen zu können. "Meister Kadir", grüßte er den Großmeister mit einer ironisch respektvollen Stimme und einem dreckigen Grinsen auf den Lippen. Dabei verbeugte er sich übertrieben. Damit zeigte er nur, dass er nach Belieben grausame Scherze über seinen Gegner machen konnte, ohne dass dieser ihn tötete. "Was wollt Ihr hier, Lord Alistair?", fragte Kadir kalt und mit wachsam funkelnden Augen. Alistair lachte nur. "Ein Kaffeekränzchen... Nach was sieht es denn aus? Aber bevor ich anfange, will ich noch meinen Spion zurück. Und wehe, Ihr habt ihm geschadet. Dann wird Euch das teuer zu stehen bekommen." Faith erkannte nicht, ob er das als Scherz meinte oder doch todernst. Kadir winkte nur ab. "Den könnt Ihr haben. Er erweist Euch ja wohl bessere Dienste als mir...", erwiderte der Meister mit fast schon angewidertem Tonfall und sah zu Cade und den beiden Assassinen, die ihn festhielten. Alistair folgte Kadirs Blick - und lachte erneut. "Oh, allerliebst. Aber das ist nicht mein Spion. Er muss wohl von jemand anderem sein..." Alistair wirkte durchaus amüsiert, jedoch auf Kosten der Leichtgläubigkeit des Großmeisters. Und das gefiel diesem überhaupt nicht. Faith war, wie viele andere nun auch, sichtlich verwirrt. Wenn es nicht Cade war, wer dann? Sie sah suchend in die Menge. Gerade drängelte sich jemand unauffällig durch die Menschenmasse in Richtung Templer. Sobald er, in Kadirs Nähe, aus der Menge trat, erkannte Faith Aed. Sie war sprachlos. Sicher, das Amulett und Cades Worte sprachen gegen ihn, aber... er hatte nie etwas gegen den Orden getan. Er hatte ihr immer geholfen. Cade hätte das auch alles einfach nur gut geplant haben können... Aber nein, er war es doch. Auf dem Gesicht des blondhaarigen Jungen hatte sich ein breites, arrogantes Grinsen gebildet. "Verzeiht mir, Meister." Er betonte das letzte Wort, sodass es fast wie ein abfälliges Zischen klang. Faith sah ihn nur ungläubig an. Viele Augen ruhten nun mit demselben Blick auf Aed. Nur Cade starrte ihn nun umso hasserfüllter an. Er war der einzige, der es gesehen hatte. Der in dem unschuldigen Jungen den Feind erkannt hatte. Wie sehr hatte es ihm wehgetan, das zu wissen, und niemanden davon überzeugen zu können? Cade spürte, wie sich die Griffe der beiden Assassinen, die ihn festhielten, lockerten. Sie waren verwirrt. Und das war noch untertrieben. Sie waren sicher alle vollkommen bestürzt. Von plötzlicher Wut gepackt nutzte Cade das, zog einem der beiden Assassinen einen Dolch aus dem Gürtel, riss sich in derselben Bewegung los, machte einen Satz in Aeds Richtung und schwang den Dolch. "Verräter!", schrie er kräftig. Er spürte, dass er ihn nur leicht erwischte - und ihm nicht den Kopf spaltete, wie er es eigentlich wollte - bevor ihn jemand kräftig an den Schultern packte, zurückzog und den Dolch aus der Hand schlug. Cade war zu beschäftigt damit, Aed mit seinem abschätzigen Blick zu bestrafen, als dass er bemerken konnte, dass Kadir es war, der ihn zurückhielt. Aed entfuhr ein überraschter Aufschrei, der gleichzeitig ein Schmerzensschrei war. Eine Wunde zog sich nun quer über sein Gesicht, hellrotes Blut lief daran hinab und tropfte auf seine weiße Assassinenrobe. Er wischte es hektisch weg, hustete und spuckte dann einen Schwall Blut, das ihm in den Mund gelaufen war, auf den Boden zwischen Templern und Assassinen. Mit dem Auge, über das kein Blut lief, sah er Cade nun ebenso hasserfüllt und bedrohlich an. Sein überhebliches Grinsen hatte Cade ihm mit seiner Attacke aus dem Gesicht gewischt. "Du kleiner Bastard. Bist Opfer deiner Entdeckung geworden. Tätest mir ja beinahe Leid..." Nun griff Aed nach einem Streifen Stoff, den er als Gürtel nutzte, um das Blut und die Wunde abzuwischen, während er sich auf seine richtige Seite, zu den Templern, gesellte. Nachdem er das getan hatte herrschte wieder kurz Stille. Die meisten Assassinen waren nun vollkommen durcheinander. Cade hatte sich etwas links hinter Kadir hingestellt. Dann erhob Kadir wieder das Wort. "Nun, da ihr Euren Spion wiederhabt, können wir uns vielleicht zu einem Kompromiss durchringen." Alistairs eben noch nicht gerade erfreute Miene wechselte nun wieder zu seinem dreckigen Grinsen. "Kompromiss? So etwas benötige ich nicht. Ihr seid umzingelt. Ich habe jeden einzelnen Ausgang besetzt. Wir sind mehr Männer." Kadir ließ sich davon nicht beeindrucken. "Doch wir haben den Vorteil der Festung. Sie ist durchaus auch für Angriffe und Belagerungen gewappnet. Und meine Männer sind wirklich ausgezeichnete Kämpfer..." Alistair lächelte nur spitz. "Nun, ihr glaubt wirklich, ihr könntet gewinnen?" Kadir schwieg. Er vermutete eine Fangfrage dahinter, und selbst wenn nicht wenigstens eine rhetorische Frage. Alistair lächelte nun wie ein Kind an Weihnachten. "Dann lasst mich Euch meine neueste Waffe vorstellen."

Red SnowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt