Beim Frühstück herrschte eine merkwürdige Stimmung. Es gab das Gerücht, dass Vaughn über Nacht zu Bewusstsein gekommen war, doch Genaueres war noch nicht bekannt. Der Großmeister war nun schon lang fort und niemand wusste, was ihn und die Meisterassassinen, die ihn begleitet hatten, so lange aufhielt. Momentan hatte Eadgyth die Leitung des Ordens übernommen, womit viele nicht einverstanden waren. Manche wollten sich von einer Frau keine Befehle geben lassen, andere plädierten darauf, dass sie ja kein richtiger Assassine sei. Gyth hatte gestern eine Rede gehalten und darauf beharrt, dass sie nur vorübergehend diese Stellung übernahm und dass Kadir sicher wieder zurückkehren würde. Über Vaughn wollte sie wohl nichts preisgeben, denn viele Novizen erzählten am Tisch, dass sie sie bereits darauf angesprochen oder es bei jemandem gesehen hatten. Faith saß mit Elora, Asha und einem Novizen, der anscheinend gehört hatte, dass Gyth mit jemandem über Vaughns Erwachen gesprochen hatte, an einem der Tische. Der Novize hieß Bélac, hatte dunkle, zerzauste Haare und einen aufmerksamen, beinahe nervösen Blick. Trotzdem war er sehr freundlich. Er hatte sich bis jetzt an jeden Tisch gesetzt und die Geschichte erzählt. Denn Vaughn war sein Mentor gewesen - nun wurde er von einem anderen trainiert. "Ich sah die Schwester des Meisters mit der Ärztin reden, sie standen in einer dunklen Ecke im Gang und flüsterten. Ich habe den Namen meines Meisters deutlich gehört und mich etwas herangeschlichen. Sie sagten, er sei wach, und dass er unbedingt Ruhe brauche." Die drei Novizen lauschten gespannt. Neues über den verletzten Meisterassassinen zu erfahren war keine schlechte Art, sich die Zeit zu vertreiben. "Dass er wach ist heißt gar nichts, vielleicht ist er gleich wieder weggetreten oder das Fieber ist wieder gestiegen, wer weiß", bedachte Elora mit einem skeptischen Blick und schob sich eine der getrockneten Früchte in den Mund. Faith hatte längst fertig gegessen und sah Bélac neugierig an. "Und? Denkst du er wird dich bald wieder trainieren können?" Bélacs Blick wurde traurig. "Ich hoffe es. Er war kein schlechter Mentor. Der jetzt ist mir viel zu streng." Faith hob überrascht ihre Augenbrauen. "Vaughn war nicht streng?" Bélac schüttelte sofort kräftig den Kopf. Er dachte etwas an die Trainingsstunden zurück. "Er war weise und erfahren, und vor allem war er zurückhaltend gegenüber Persönlichem, aber er war nicht streng", erklärte der junge Novize mit einem wehmütigen Lächeln. "Bélac, wie lang bist du schon Novize?", wollte dann Asha wissen, die den Jungen nur stirnrunzelnd gemustert hatte. "Seit einigen Jahren, wieso?" Asha zuckte mit den Schultern. "Nur so." Faith wurde nachdenklich. Für viele Assassinen waren ihre Mentoren wie ein Vater oder so etwas, da sie als junge Kinder zu den Assassinen geholt wurden und der Mentor oder die Mentorin dann eine Vorbildrolle einnahm. Bei Faith und Asha war das nicht so gewesen. Sie waren als Jugendliche dazugekommen. Bei ihnen funktionierte das mit dieser Vaterrolle nicht wirklich. Denn ihre Mentoren, Cade und Viola, konnten kaum viel älter sein als sie. Hätten sie ihre Ausbildung früher begonnen, wenn ihr Vater überlebt hätte? Hätte Ríona es zugelassen, dass ihre Töchter demselben Orden beitraten wie ihr Vater es getan hatte? Oder hätte sie sie abgehalten? Ganz in Gedanken versunken bemerkte Faith nicht, wie Bélac sich wegsetzte und dort erneut die Geschichte erzählte. Er würde noch etwas zu tun haben. Sie wandte sich nun an Asha, während Elora nach und nach die Schüssel mit den getrockneten Früchten leerte. "Asha, wir sollten endlich jemandem unseren Fund zeigen. Wir können nicht länger auf Kadir warten." Sie sprach etwas leiser, damit es niemand hörte. Asha nickte langsam. "Du meinst, Gyth weiß Bescheid über das Amulett?" Faith zuckte nur mit den Schultern. "Einen Versuch ist es wert, oder?" Sie spielte nebenbei mit dem stumpfen Messer herum, das sie zum Aufstreichen von Butter benutzt hatte. "Okay, und wann sagen wir es ihr?" Faith legte das Messer auf ihren Teller und schob den Teller zum Tischende. "Hast du heute Vormittag Zeit?" Ashas Miene zeigte Unsicherheit. "Ich weiß es nicht, wenn ich Viola überreden kann... Ich denke, dann schon." Faith nickte und sah kurz zu Elora, die aber mehr oder weniger mit gleichgültiger Miene hinüber zu einem anderen Tisch sah. Dann blickte sie wieder ihre Schwester an. "Okay, dann heute vor dem Mittagessen?" Asha nickte schnell und stellte ihren Teller ebenfalls weg. "Ich muss jetzt los, bis nachher." Faith sah der rothaarigen Novizin kurz nach, dann wandte sie sich an Elora und begann ein Gespräch. Beide hatten heute nichts zu tun, da ihre Mentoren und einige andere Meisterassassinen losgeschickt worden waren, um sich auf die Suche nach dem Meister und den anderen zu machen. Manche befürchteten bereits, dass der Großmeister und seine Gefährten getötet oder gefangen genommen wurden. Faith hoffte, dass dem nicht so war. Sie wusste nicht, wieso - denn sie sah Kadir selten - aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er ein guter Freund war. Immerhin war er losgezogen um sie herzubringen, und er hatte ihr auch immer viel Freiheit gelassen, was die Ordnung im Orden anging.
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Red Snow
AdventureDer Boden dieses Landes wird seit Jahrhunderten vom Blut eines endlosen Krieges getränkt. Zwei Fraktionen, Assassinen und Templer, beide überzeugt von ihren Idealen, kämpfen seit jeher mit dem Ziel, Frieden auf Erden zu erreichen. Die junge Faith ah...