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Wenn Daniel noch einen Koffer hätte, der nicht so schwer wäre, auch ohne seine Klamotten in ihm, wäre das schon eine große Hilfe. Aber er hat keinen anderen. Seine Eltern sind Doktoren, aber haben keine leichten Koffer daheim. Und nichts könnte Daniel jetzt gerade mehr nerven.

Denn gerade muss er diesen besagten Koffer auf sein Bett hieven, was komische Geräusche von sich gibt, als das Monstrum auf ihm liegt und Daniel steht davor und will den Koffer am liebsten gleich wieder herunter schmeißen.

Er will das nicht. Er will in kein Freizeitlager. Nicht in seinen Sommerferien, nicht für drei Wochen und erst recht nicht in einen scheiß Wald!

Doch alle anderen wollen. Nur Daniel eben nicht.

Alle anderen mögen Sport, Daniel nicht.

Alle anderen werfen mit Kraftausdrücken um sich, Daniel nicht.

Und auch das findet Daniel scheiße. Aber so richtig.

Was ist an dem Hamburger Vorort so falsch, dass er nicht hier bleiben kann? Was ist denn so falsch daran, dass Daniel eben nicht mit diesen groben Arschlöchern zu recht kommt, die ihn schon in der Schule genug hin und her schubsen? Er kann nicht mit Gewissheit sagen, dass er die Jungs im Lager kennen wird, aber die sind in Daniels Augen eh alle gleich.

Alles ist gleich heutzutage und alles ist gleich scheiße. Man kann sich nicht mehr auf die Straße trauen ohne das von einem etwas erwartet wird. Man kann nur in der Masse untertauchen und versuchen nicht aufzufallen, aber selbst das will Daniel einfach nicht.

Und er weiß, dass das Lager genau dafür da ist: Eine starke Gemeinschaft zu formen... Was aber, wenn er das nicht will? Wenn er lieber mit seinen Eltern ans Meer fährt? Was, wenn er lieber mit Leuten Eis essen geht und zwar mit Leuten, die er mag?

Daniel versteht seine Eltern nicht. Und erst recht versteht er sie nicht, wenn sie sagen, dass er dazu gehören muss und dass er raus muss, in die große weite Welt.

Die große weite Welt ist ein Wald an der Nordsee, so wie es scheint. Denn da wird Daniel Sommerdorf morgen hinfahren. Mit dem brandneuen Auto seines Vaters, der das alles eigentlich auch nicht mag, weil er so introvertiert ist wie Daniel selbst. Aber man hört ja auf seine Frau und wenn alle das machen, wenn alle ihre Kinder in Freizeitlager schicken und zwar strikt in Geschlechtern und Altersklassen eingeteilt, dann macht das wohl oder übel auch Doktor Sommerdorf.

Der Doktor, der gerade mahnend im Türrahmen von Daniels Zimmer steht und seine Brille zurecht rückt.

Sein Sohn flucht immer noch murmelnd über das Gewicht des Koffers.

„Willst du da auch was rein packen oder denkst du, dass fliegt da magischer Weise rein?", murmelt der Doktor.

Daniel zuckt zusammen, da er nicht wusste, dass sein Vater ihm zugehört und zugeschaut hat.

„Hab dich nicht gesehen."

„Packst du dann mal? Morgen ist die Abreise und es ist schon abends. Und ich weiß, dass du nicht packen kannst und ewig dafür brauchst, also mach schnell." Und dann gesellt sich Doktor Sommerdorf zu seiner Ehefrau ins Wohnzimmer, welche gerade in einem Fachbuch liest. Gestern hatte sie einen Patienten bekommen, dessen Krankheit unidentifiziert scheint und sie will noch einmal in ihrer Fachliteratur nachlesen, ob sie vielleicht Anzeichen übersehen hat.

„Packt er?" Sie schaut nicht auf. Blättert nur eine Seite weiter und rümpft die Nase.

„Ja, nein. Daniel ist gerade dabei den Koffer zu beschimpfen. Ich hoffe aber, dass er gleich packt."

„Besser wäre es." Seine Frau ist vertieft, denkt sich der Doktor und zieht sich in die Küche zurück, wo er sich an den Tisch setzt und das Hamburger Abendblatt zur Hand nimmt.

Er schüttelt den Kopf. „Das ist alles nicht zu fassen", murmelt er und greift sich an die Schläfen. Er massiert sie leicht und schüttelt weiter seinen Kopf.

Da schickt er seinen Sohn hin? In so ein Lager? Was ist, wenn es schlimmer wird? Wenn ihn wieder alle hänseln? Daniel ist ein kluger Bursche und das gefällt dummen Jungs nun mal nicht und deswegen kassiert sein Junge öfters Schläge als der Rüpel, der neben ihnen in der Straße wohnt.

Es war nicht selten, dass Daniel mit blauen Augen, einer blutenden Nase oder einem Humpelschritt nach Hause kam.

Revolution nennen es einige und nur weil Daniel nicht mitmacht, wird er fertig gemacht.

Seine Frau will das ändern mit diesem Freizeitlager, aber der Doktor ist sich nicht sicher, ob dass nicht vielleicht Daniels Gesundheit noch mehr schadet.

Mittlerweile hat er nur noch wenige Freunde und die meisten davon sind Mädchen. Er hat nichts dagegen, wenn Daniel mit Mädchen zusammen ist, aber der Bursche braucht mal seines gleichen.

Diesen Gedanken scheint den Doktor leicht zu beruhigen. Er nickt schwach und legt die Zeitung weg, bevor er sich einen Tee macht.

Nachts, wenn ich nicht dran denken muss | boyxboy  ✔️ #WattpadOscars2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt