Stormur

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"Ellie! Er kommt in eine der Boxen dort drüben!", rief Lotte mir zu und verlangsamte das Tempo etwas, als sie fast bei mir war.
"Er steht in der Box?", fragte ich entsetzt.
"Ja, er soll angeblich zu aggressiv sein um im Paddock bei den anderen zu stehen. Martin meinte, wir sollen bloß vorsichtig sein.", sagte Lotte und beäugte den Wallach misstrauisch, der immernoch pumpte und mit den Augen rollte. Langsam setzten wir uns in Bewegung, wobei ich weiter auf ihn einredete.
"Die hier muss es sein.", sagte Lotte und zeigte auf eine dunkle Box in der Ecke des Stalls.

"Was? Bist du sicher?", fragte ich argwöhnisch und betrachtete das milchige Fenster und die klapprige Tür, die anscheinen schon öfter repariert werden musste.
"Ja, von dieser hier hat er gesprochen.", sagte sie schulterzuckend. Ich band das Pferd außen an die Box und holte eine Schaufel Futter, die ich in einen Eimer schüttete und in seine Box hängte. Dann nahm ich ein bisschen Heu und türmte es in einer Ecke der Box auf. Schließlich stellte ich ihn hinein und wir sahen zu, wie er sofort zur Tränke lief und seine Nase darin versenkte.
"Was ist bloß passiert? Warum hat er sie getreten?", murmelte ich und tippte mit meinen Fingern auf die Boxentür.
"Er ist wahrscheinlich einfach total gestört.", sagte Lotte und lehnte sich gegen die Box gegenüber.
"Nein, das glaube ich nicht. Pferde werden meistens erst so, wenn sie schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht haben.", murmelte ich und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

"Wir sollten jetzt vielleicht doch mal lieber den Unfall im Sekreteriat melden. Das Abendessen ist bald vorbei und ich möchte nicht so gerne mit leerem Magen ins Bett gehen.", sagte Lotte vorsichtig. Ich nickte nur und wir gingen auf direktem Wege ins Büro der Schulleitung.
"Das Mädchen heißt Christina Möller. Eine Platzwunde, sagt ihr?", stellte die Direktorin fest.
"Ja, sie haben sie in das Krankenhaus im Nachbarort gebracht. Man wollte sich hier melden, wenn es etwas Neues gibt. Ihre Eltern haben sie auch schon kontaktiert.", erklärte ich und die Frau nickte.
"Vielen Dank für Eure Hilfe, Mädchen. Wer weiß, was ohne euch passiert wäre!", fügte sie dann hinzu.
"Auf Wiedersehen!", sagte ich zum Abschied und schob Lotte vor mir her.
"Hey, es ist wirklich alles gut.", tröstete ich sie abermals, aber vergeblich.

"Komm, wir wollten doch noch was essen.", sagte ich fröhlich und wir schlugen den Weg zur Mensa ein. Viele waren schon gegangen und andere brachten ihr Geschirr weg. Schnell gingen wir zum Buffet und bedienten uns. Oder eher ich bediente mich. Lotte schien der Appetit vergangen zu sein.
"Eben hattest du noch Hunger.", stellte ich fest und sah zu, wie sie ihre Nudeln auf dem Teller hin und herschob.
"Ich gehe schonmal hoch.", murmelte sie dann und stand auf.
"Okay, ist gut.", sagte ich, aber sie hörte mich gar nicht mehr. Warum beschäftigte sie das bloß so? Klar, mir tat das Mädchen auch leid, aber wir kannten sie doch garnicht, oder?

Nachdenklich ging ich zu unserem Zimmer und öffnete die Tür, Lotte war gerade im Bad. Ich setzte mich an den Schreibtisch und erledigte meine Hausaufgaben, doch als sie nach 30 Minuten noch immer im Bad verschwunden blieb, klopfte ich an die Tür.
"Alles klar, oder versuchst du dich gerade in der Toilette zu ertränken?", versuchte ich es mit einem Scherz. Doch als ich von drinnen nur ein Schluchzen als Antwort bekam, war mir das Scherzen vergangen.
"Was ist denn los, Lotte?", fragte ich besorgt, und endlich öffnete sich die Tür. Lottes Augen waren rot und verquollen und sie hatte ein durchweichtes Taschentuch in der Hand. Ich nahm sie trotzdem in den Arm und führte sie zu ihrem Bett. Dann kramte ich eine Tafel Schokolade aus meinem Koffer und reichte sie ihr.

"Meine Cousine. S-sie wurde von ihrem Pferd getreten u-und ist an den Verletzungen gestorben. D-das hat mich an sie erinnert. Es tut so weh, weißt du?", platzte sie heraus und ich schaute sie mitfühlend an.
"Ja, glaub mir. Ich weiß genau wie du dich fühlst. Der Schmerz geht nicht weg, aber man muss damit leben.", sagte ich ruhig und schob mir ein Stück Schokolade in den Mund.
"I-ich hatte e-es ja g-ganz vergessen, d-deine Mutter...", schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
"Hey, Lotte. Es sah nicht so aus, als ob das Mädchen sterben würde. Sie wird schon wieder.", sagte ich leise und stand auf.
"Gute Nacht.", sagte ich, nahm meine Sachen und ging nun auch ins Bad. Beim Duschen dachte ich vor allem an das Mädchen und ihr Pferd, aber auch an Lottes Cousine. Was war bloß mit den Pferden los gewesen? Was brachte ein Pferd zu so etwas? Als ich wieder ins Zimmer kam schlief Lotte schon und ich ging leise zu meinem Bett. Ich hatte eine Nachricht von meinem Vater.

Hallo Schatz, wollen wir kurz telefonieren?

Schnell nahm ich mein Handy, schlüpfte in Morgenmantel und Pantoffeln und ging leise raus auf den Flur. Dann wählte ich seine Nummer an.
"Hallo Ellie.", sagte er gleich nach dem ersten Klingeln.
"Hallo Papa. Wie geht's dir?", fragte ich und plötzlich vermisste ich ihn ganz schrecklich.
"Es geht mir gut, aber du fehlst mir. Es ist hier garnichts los ohne dich.", erwiederte er traurig. Ich kämpfte mit den Tränen.
"Ja, du fehlst mir auch.", krächzte ich und wir redeten noch kurz über dieses und jenes und legten dann auf. Als ich mich anschließend in mein Bett legte, wünschte ich mir Zuhause zu sein. Klar, Lotte war eine tolle Freundin, ich hatte ein tolles Pferd und das Internat war einfach klasse. Aber ich trauerte noch immer um meine Mutter und die Geschehnisse des heutigen Tages beschäftigten mich auch sehr. Doch über all diesen Gedanken fiel ich schließlich doch in einen unruhigen Schlaf.

***

"Ihr macht bitte zu Montag Aufgabe 3 und 5 fertig. Ein schönes Wochenende.", beendete ihre Geografielehrerin die letzte Stunde in dieser Woche. Schnell packten wir unsere Sachen zusammen und stürmten aus dem Raum. Es war endlich Wochenende! Obwohl ich mit der Schule kein Problem hatte, kam mir diese erste Woche doch endlos vor. Jetzt hatten wir erstmal zwei Tage Zeit um Auszureiten, Reitstunden zu nehmen oder auch Hausaufgaben zu machen und zu lernen.
"Man, also Wochenende kann man das ja auch nicht nennen. So viele Hausaufgaben, wie wir aufhaben ist das fast wie zwei zusätzliche Tage Schule...", murrte Nadja auf dem Weg zu unseren Zimmern.
"Du hast recht. Das ist echt schrecklich!"; echauffierte sich Lotte, die seit Mittwochabend das Stormur-Christina-Thema nicht noch einmal erwähnt hatte. Sie verhielt sich nun wieder halbwegs normal, aber die Unbeschwertheit war verschwunden. Als wir auf den Hof traten sahen wir ein schwarzes Auto direkt neben dem Internat halten. Die hintere Tür öffnete sich und heraus kam: Christina Möller.

4 Hufe, 2 Beine und 1 TeamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt