#20 - Verzweiflung

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Seine Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, was seinen Händen zu verdanken war, die sich in ihnen festgekrallt hatten. Er zitterte, fror tatsächlich, obwohl es in seinem Zimmer viel zu warm war. Seine Beine hatte er an seine Brust gezogen, umklammerte sie mit seinen Händen und saß mit dem Rücken an die Tür gelehnt auf dem Fußboden. Vor seiner Tür waren Stimmen zu vernehmen, die leise miteinander diskutierten. Obwohl Stegi die Worte nicht verstand, wusste er, dass sie über ihn sprachen. Er, der sich in seinem eigenen Zimmer eigesperrt hatte. Er, der in noch immer triefenden Klamotten dasaß, als hätte er einen Geist gesehen. Den einzigen Ausweg, den er gesehen hatte, war der gewesen, sich von seiner Schwester und Tim zurückzuziehen, um seine Ruhe zu haben, um nachdenken zu können.

Tim hatte ihn vorhin offen provoziert, ohne sich dafür zu schämen. Er hatte versucht, Stegi eine Reaktion zu entlocken, wie genau genommen schon den ganzen Tag über. Die Frage nach der Bleibe bei Regen, das Problem mit dem Schlüssel und nun auch noch ein Theater im Bad. Der Blonde lehnte seinen Kopf an die Tür, schloss die Augen, atmete tief durch. Mehr als offensichtlich hatte Tim versucht herauszufinden, wie er auf seine Annäherungsversuche reagierte. Dass Stegi mit seinen Handlungen direkt in Tims Arme spielte, hatte er im Voraus nicht gewusst. Er hatte es nicht gewollt, doch geschehen war es dennoch.

„Stegi?", fragte Tim durch die Tür, klopfte leise. Seine Stimme zitterte, als er seinen Besucher anherrschte: „Geh weg! Lass mich in Ruhe!" Stegi brachte es nicht über das Herz, ihm eine Beleidigung an den Kopf zu werfen, dazu war er zu aufgewühlt. Er vernahm die Schritte, die sich von seinem Zimmer entfernten, ein leises Flüstern, danach Stille. Hatte er damit gerade die erst begonnene Freundschaft zerstört? Rasch schob Stegi diesen Gedanken beiseite.

Er erhob sich vorsichtig, trat an sein Fenster und starrte in den Garten hinunter. Es regnete noch immer Bindfäden, auf dem Gras bildete sich allmählich ein kleiner See. Nein, Tim würde noch nicht gehen. Wohl oder übel musste er in seinem Zimmer warten, bis er das Haus verlassen hatte, wollte er ihm nicht mehr unter die Augen treten. Zum zweiten Mal klopfte es an seiner Tür, zaghaft wollte seine Schwester wissen, ob sie zu ihm kommen dürfte.

Traf Tim überhaupt die Schuld an der ganzen Sache? Schließlich hatte er selbst überreagiert, obschon ihn Tim nur ein bisschen geneckt hatte. Stegi versuchte, dieses Bisschen zu definieren, scheiterte aber kläglich. War Tim zu weit gegangen? Oder hatte er es getan, ohne es selbst zu merken? Vielleicht verhielt er sich immer so, anderen Menschen gegenüber. In seinem Inneren spürte Stegi, dass er die Tür öffnen musste, damit er sich nicht völlig in seinen Gedanken verlieren würde. Spätestens in einer halben Stunde säße er verzweifelt auf seinem Bett und wüsste nicht mehr, was er tun sollte. Um diese Situation zu vermeiden, schloss er die Tür auf, öffnete sie einen Spalt breit und ließ sich auf sein Bett fallen. Er starrte den Boden zwischen seinen Füssen an, achtete nicht darauf, ob seine Schwester nun wirklich in sein Zimmer kam. Neben ihm senkte sich das Bett, jemand zog ihn in seine Arme, hielt ihn fest. Erschöpft legte er seinen Kopf an dessen Schulter, hielt die Augen geschlossen. Erst, als dieser Jemand leise sprach: „Es tut mir leid. Bitte verzeih mir", wurde Stegi bewusst, dass das nicht seine Schwester war, die ihn umarmte. Sogleich verkrampfte er sich, rührte sich dennoch nicht von der Stelle. Wie sollte er denn bitte darauf reagieren?

Letters to X || StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt