#30 - ertappt

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Die Woche zog sich hin, als wäre er mit dem Schuh auf einen Kaugummi getreten. Die Zeit schien halb so schnell abzulaufen, schien alles zu versuchen, den Freitag möglichst von ihm fernzuhalten. Jetzt, in diesem Moment, saß Stegi im Klassenzimmer, starrte unkonzentriert an die Tafel. Er hörte das monotone Gerede seines Lehrers, nahm dessen Worte jedoch nicht auf. Sie blieben nicht in seinem Gehirn kleben, nichts vermochte seine Langeweile zu unterbrechen. Nachdem er dem Alten einen prüfenden Blick zugeworfen hatte, zog er sein Handy aus der Tasche und entsperrte es unter dem Tisch. Zu seinem Glück saß er in der hintersten Reihe, weshalb der Lehrer derweilen nichts von Stegis Beschäftigung mitbekam.

Es war erst Dienstag, zehn Uhr. Bald würde die Klingel das Ende der Stunde verkünden, doch bis dahin waren es noch zehn Minuten. Zu seinem Erstaunen hatte er eine neue Nachricht.

Kommt es dir auch so vor, als ob der Unterricht unheimlich lange dauern würde? - 09.48 Uhr

Tim hatte ihm geschrieben, war wohl ebenfalls gelangweilt gewesen. Nachdenklich öffnete Stegi den Chat, fragte sich, ob sein Freund das Handy auf lautlos gestellt hatte. Wenn nicht, käme er in Schwierigkeiten, würde Stegi ihm antworten. Stegi tippte trotzdem eine Antwort, teilte Tim mit, wie langweilig die Physikstunde war. Sogleich wechselte das Offline zu Online und schließlich zu Schreibt..., was den Blonden gespannt auf sein Display starren ließ.

Vier Minuten später hatten sie etliche Nachrichten ausgetauscht, diskutierten inzwischen über den Club, in den sie am Freitag gehen wollten. Erst ein lautes Räuspern zeigte Stegi auf, dass der Lehrer wohl doch etwas von seiner mangelnden Aufmerksamkeit mitbekommen hatte. Ertappt sperrte er das Handy, wollte es bereits in seiner Tasche verschwinden lassen, doch sein Lehrer hatte einen anderen Plan. Er stand direkt vor seinem Tisch und befahl: „Gib mir dein Handy!" Seufzend reichte Stegi es ihm. „Entsperren!" Kopfschüttelnd weigerte er sich, denn ein Lehrer durfte nicht ohne Grund einen Eingriff in die Privatsphäre verlangen. Dass das ein solcher war, stand fest. „Entweder du entsperrst es, oder wir gehen zusammen zum Rektor!", drohte er. Der Blonde wusste sich nicht zu helfen, tat wie ihm geheißen.

Zurück beim Lehrerpult tippte der Alte auf Stegis Handy herum, hob triumphierend die Augenbrauen. Die gesamte Klasse schwieg gespannt. Stegi rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, wusste innerlich, dass der Lehrer den Chat mit Tim geöffnet hatte. Mit verstellter Stimme begann er vorzulesen: „‚Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist...' - ‚Ach komm schon! Tu mir den Gefallen und komm mit!' - ‚Ich gehe aber nicht gerne feiern.' - ‚Ich werde schon dafür sorgen, dass du wieder in deinem Zimmer landest, keine Sorge.' - ‚Können wir nicht etwas Anderes machen? Es soll freitags sowieso regnen.' - ‚Nope, du kommst mit.' - ‚Na schön, aber du bist schuld, wenn etwas schiefgeht.' - ‚Was soll denn da bitte schiefgehen?' - ‚Ach, keine Ahnung. Ich vertrage nicht so viel Alkohol...'" Stegi sank immer weiter in sich zusammen. Wie peinlich war das denn? Jetzt wusste die ganze Klasse, dass er nicht viel Alkohol vertrug und nicht gerne feiern ging. Er spürte, wie sein Gesicht glühte. Aus der anderen Ecke des Zimmers kam eine Aufforderung, der Lehrer sollte doch bitte aufklären, mit wem Stegi da geschrieben hatte. Der Lehrer unterbrach seine Darbietung, antwortete, dass es sich um einen Tim handelte. Derselbe, der die Frage gestellt hatte, erwiderte: „Du gehst feiern? Mit uns kommst du nie mit! Da muss der Junge aber etwas Besonderes sein. Ist unser Stegi etwa schwul?" Leises Gekicher war aus allen Ecken zu hören. Der Lehrer legte das Handy auf den Tisch, setzte an, den Unterricht fortzuführen und so zu tun, als hätte er die vorhergehende Frage nicht gehört. Er mochte es nicht, wenn in seinem Klassenzimmer irgendjemand diskriminiert wurde, egal weshalb. Um dem Provokateur eine Chance zur Entschuldigung zu geben, ging er nicht darauf ein. Stegis Gesicht wurde noch wärmer, die Röte musste kaum mehr zu übersehen sein. „Nein, bin ich nicht", flüsterte er. Er war ganz sicher nicht schwul, das hätte er bemerkt. Er stand noch immer auf Mädchen, sein eigenes Geschlecht kam nicht in Frage. Doch er wusste nicht, wie er sich weiter verteidigen sollte.

Letters to X || StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt