Es war ein sonniger Morgen im April. Klirrend kalt. Auf dem Asphalt hatte sich noch einmal eine unverkennbare Eisschicht gebildet. Wir wussten genau, dass sie am Mittag verschwunden sein würde. Beinahe wie es bei ihr immer der Fall gewesen war. Diese dünne Eisschicht hatte sich jeden Tag um sie gelegt. Es dauerte immer einige Stunden, bis sie schmolz. Der April war nie sehr konsequent gewesen. Vielleicht hatten wir sie deshalb so genannt. April, die Unbeständige. Sie war bekannt dafür, dass sie innerhalb weniger Momente zwischen tausenden Gedanken und Gefühlen wechseln konnte. Ideen und Argumente sprudelten nur so aus ihr heraus, als wäre sie ein Vulkan, der nie müde wurde, nie erlosch. Bis sie dazu gezwungen wurde.
Ich lernte April recht spät kennen. Obwohl sie bereits seit dem Kindergarten nebenan wohnte, hatten wir doch kein Wort miteinander gewechselt. Ihre blonden Haare hatten sie früher alle bewundert. Sogar meine Mutter nannte dieses Mädchen einen Engel. Ihr Gesicht glich dem einer dieser Puppen mit Porzellanköpfen, die ich früher immer so gruselig gefunden hatte. Ihre Augen waren so markant, dass sie ein wenig zu groß für ihren Kopf wirkten. Ihre Nase war ein wenig krumm und ich erinnerte mich immer wieder daran, nachdem ich sie kennen gelernt hatte, dass sie einen schiefen Schneidezahn hatte. Ein Makel, der sie erst irgendwie menschlich machte. Anders als andere Kinder in unserer Schule, änderte April nie ihr Aussehen. Auch sonst war sie eigentlich kein Mensch, der auffiel. Sie trug schlichte Kleidung, sie sprach nicht viel, hatte gute Manieren. Hätte sie nicht neben mir gewohnt, dann hätte ich nicht einmal gewusst, dass sie existierte. Doch eines Tages, da brach der April über sie herein. Über uns alle. Es war ein Tag im Mai gewesen. Die Hitze war kaum auszuhalten und wir wollten uns eigentlich alle nicht bewegen. Wir lümmelten in der Nähe eines Schnellimbiss herum. Der Grund dafür war simpel: Louis arbeitete dort und wir bekamen Freigetränke. Unsere Blicke waren Hoffnungsvoll in den Himmel gerichtet, wo sich die Wolken zusammen ballten und ab und an brummten. Wir hofften auf Regen, auf Erlösung von diesem Druck, der uns schwächte. Louis hatte kaum Kundschaft. Kein wunder, denn bei diesem Wetter traute sich niemand vor die Tür. Die Straßen schienen wie leer gefegt. Einzig und alleine der Eiswagen erhellte die Stille mit seiner fortwährenden Musik. Jeder von uns kannte die Melodie. Aber niemand wusste wirklich, wie das Lied heißt.
"Sieht nach regen aus", brummte Louis, während er aus den Plastikgabeln ein Kunstwerk erschuf, dass einem seine Langeweile entgegen schrie. "Mhm", antwortete ich unbestimmt, weil sonst niemand etwas erwidern wollte. Meine Augen lagen auf dem Eiswagen. Es war das einzig andere Lebendige, außer uns. Die anderen blickten in den Himmel oder hatten die Augen geschlossen. "Wir sollten den Eismann mal fragen, ob er nicht auch was anderes auflegen kann", kam es von Clarissa, die zu dem Takt der Dauerschleife mit dem Fuß wippte. Niemand antwortete. Die Stille wurde von einem lauten Donner zerschlagen. Wir zuckten zusammen und lachten, als wir alle den Anschein erwecken wollten, dass wir uns nicht erschrocken hätten. "Das ist so langweilig", murrte Spike und machte eine Kaugummiblase. Wieder antwortete niemand. Keiner hielt es für nötig. Der nächste Donnerschlag erschreckte uns nicht mehr. Dafür der Regen, der so plötzlich und so heftig auf uns niederprasselte, als hätte jemand eine unsichtbare Dusche angestellt. Clarissa flüchtete kreischend unter das kleine Vordach des Schnellimbiss, wo sie Louis Kunstwerk von der Bedienfläche fegte um sich mit ihrem Minirock darauf zu setzen. Wir lachten über ihre Bemühungen, bis jemand auf die Straße deutete. Die Musik des Eiswagens war noch undeutlich zwischen dem Geräusch des Regens zu vernehmen. Darum verstand ich auch nicht, was gesagt wurde. Aber das war auch nicht nötig. Wir sahen es alle. Auf der Straße, mitten im sommerlichen Regenguss, drehte sich eine Gestalt im Kreis. "Die tanzt im Regen", hörte ich jemanden undeutlich sagen und mich selbst antworten: "Das ist meine Nachbarin." Sie war es wirklich. Ihr Haar schimmerte dunkel, als es sich mit dem Wasser voll sog, ihre Kleidung klebte an ihrem Körper, verkrümmte ihre Gestalt, sodass kaum auszumachen war, wo irgendetwas von ihre begann oder endete. Wir beobachteten sie, unfähig es zu ignorieren. Sie zu ignorieren. Aber sie ignorierte uns.
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