Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, fragte ich mich, wer ich war. Es gab so vieles, was ich mir wünschte zu sein, aber ich wusste nie, was davon wirklich ich war und was ein Traum. Wobei Traum schon immer das falsche Wort war. Es fühlte sich eher an wie eine Lüge. Ein Schauspiel. Ein Trugbild. Ein Netz aus unbestimmten Erinnerungen, die nicht meine zu sein schienen, das mich erstickte, gefangen hielt, behinderte. Es wirkte Falsch.
Häufig erwischte ich mich dabei, wie ich versuchte mich selbst auszuspionieren. Wie ich mir selbst so lange ein und die selbe Lüge erzählte, bis es sich wie eine Wahrheit anhörte. Bis es sich wie eine Wahrheit anfühlte. Bis es sich wie meine Wahrheit anfühlte. Bis ich es selbst für eine Wahrheit hielt. Wenn ich mich so im Spiegel betrachtete und an all die neuen und alten Wahrheiten dachte, begann ich mich zu fragen: Wo ist die Zeit hin, in der ich alles sein konnte? In der ich Basketballer sein konnte. In der ich die Bäckerin an der Ecke sein konnte, die am Ende des Tages das nicht verkaufte Brot an Obdachlose verschenkte. Der Klempner, der den Abfluss der kleinen Oma reparierte, nachts um drei. Der Künstler, der sich in ein einsames Haus verzog, wo er die Schönheit der Natur für die Menschheit einfing. Der erste Astronaut auf dem Mars, der Geschichte schreiben würde. Es gab eine Zeit, da konnte ich alles sein. Aber ich fühlte mich einfach nur wie ein Spion und Spione tauchen gerne unter.Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, wusste ich nicht, wer ich war.
Gerne wäre ich die Nachbarin im dritten Stock gewesen, die jedes Wochenende einen anderen Bettpartner mit nach Hause brachte und ihn am nächsten morgen mit einem Coffee to go verabschiedete, nur um ihn nie wieder zu sehen. Gerne wäre ich der Polizist an der Ecke gewesen, der den Verkehr regelte und dem unvorsichtigen Motorradfahrer einen Strafzettel gab, damit dieser sicher zu Hause bei seiner Familie ankam. Eine Familie, die der Polizist nicht hatte. Gerne wäre ich der spanische Kellner aus dem Restaurant gewesen, der die hälfte seines Gehalts zu seiner Familie nach Hause schickte um seiner kleinen Schwester das Studium zu ermöglichen. Gerne wäre ich der Kriegsveteran im Park gewesen, der so viel zu erzählen hatte, aber niemanden, der ihm zuhörte.Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, wusste ich nicht, wer ich war.
Die Menschen hatten so viele Geschichten, die sich um sie schlängelten. So viele einzelne Erzählstränge, die sich zu einem Netz verknüpften und die Menschen in ihrer Menschlichkeit gefangen hielten. Immer wieder fingen sie auch andere Menschen ein, verformten sie, veränderten sie, beeinflussten sie. Wie ein unglücklich gefangener Delfin oder eine Meeresschildkröte in einem Fischernetz trieben die Menschen in den Netzen der anderen eine Weile herum. Manche erstickten, manche resignierten, aber die meisten nutzten diese Gefangenschaft um sich zu verändern, bis sie fliehen konnten oder jemanden fanden, der sie aus dem Netz befreite. Nur um dann in einem anderen Netz gefangen zu sein. Vielleicht ein Netz mit größeren Maschen, aber immer noch ein Netz.Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, wusste ich nicht, wer ich war.
Das Gesicht, dass mir entgegen sah, konnte ich nicht leiden. Es war nicht das Aussehen, was ich nicht mochte. Es war die Geschichte, die dieses Gesicht geschrieben hatte. Die Geschichte und die Geschichten, die hinaus in die Welt trabten nur um andere Menschen zu beeinflussen und von ihren Wegen abzubringen. Es waren die vielen Wahrheiten hinter diesem Gesicht, die niemand kannte. Wahrheiten, die so gut vergraben worden waren, dass nicht einmal ich sie erkannte. Wahrheiten, die nichts als reine Wahrheiten waren. Nicht diese neuen Wahrheiten, die so schön adrett frisiert ein Schild bildeten, um mich zu beschützen und gleichzeitig von den Menschen abzuschotten. Es waren die reinen Wahrheiten, die ich hasste. Jene, die ich manchmal aus ihrer Kiste hervor holte. Jene, die manchmal aus mir heraus brachen, unkontrolliert. Jene, die meine Seele und mein Herz freilegten. Wenn der Schild Löcher bekam, das hasste ich am meisten.Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, wusste ich nicht, wer ich war.
Viele Menschen konnten etwas über mich sagen. Gutes wurde viel verbreitet, Schlechtes noch häufiger. Erfindung und Wahrheit verschmolzen. Ob die Menschen glaubten, was über mich gesprochen wurde, wusste ich nicht. Manche sicher. Viele sprachen wohl deshalb nicht einmal mit mir. Viele, die sich durch die Gerüchteküche geschlagen hatten, erwiesen sich als unwürdige. Sie warteten auf die Löcher in meiner Rüstung, mit so unglaublich unmenschlicher Geduld, nur damit sie ein glühendes Eisen hinein rammen konnten. Sie rissen, fetzten, brannten, schlitzen, bis kaum noch etwas von dem übrig war, was ich sein sollte. Oder bis etwas entstanden war, was ich sein musste um sie los zu werden.Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, wusste ich nicht, wer ich war.
Ich bin in vielen Netzen gelandet. Einige waren grobmaschig, einige engmaschig. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie waren ein Netz. Sie hinderten mich daran, frei zu sein. Sie hinderten mich daran, herauszufinden, wer ich war. Darum wusste ich es nicht. Ich wusste nicht wer ich war, ich würde es nie wissen. Denn es gab kein Leben ohne Netze. Es gab keine Existenz in der ich das Netz wob. Es gab keine Momente, in denen ich den Schlüssel für die Käfige hatte. Es gab nur die Schnüre der anderen Netze, häufig mehrere auf einmal. sie schnitten in die Haut, ließen einen Bluten. Immer dachte ich, es ist es wert. Das Netz ist gemütlich, es ist in Ordnung, es gibt auch Momente, in denen es einen fliegen lässt. Aber immer stürzte ich ab. Immer wenn die Löcher kamen, wusste ich, was folgen würde. Schmerz und Demütigung. Meistens von denen, die mir zuvor ein Messer gegeben hatten, um mich aus einem anderen Netz zu befreien. Sie sagten mir, wer ich war, aber jede dieser Wahrheiten fühlte sich falsch an. Wie eine Lüge. Ein Schauspiel. Ein Trugbild. Es war nicht die Form, in die ich passte, aber die Netze zwangen mich, in sie zu passen.Immer, wenn ich in den Spiegel blickte, wusste ich nicht, wer ich war.
Lange Zeit ging es darum, zu sein, was erwartet wurde. Aber das war ich nicht. Das würde ich wohl nie sein. Die Form, in die ich passe, das Netz, mit den richtigen Maschengrößen, der Käfig, der keine Wände besitzt, all das war mir noch nicht begegnet. Aber auch wenn es kein Leben ohne Netze gibt, keine Gespräche ohne doppelten Boden, keine Seile ohne Stolperfallen, so gab es den Spiegel. Der Spiegel, der die Wahrheiten hervor lockte. Der Spiegel, der nichts vergaß. Der Spiegel, der mir sagen konnte, wer ich war. Der Spiegel, der die Truhen öffnete um die Schätze zu entlassen, vor denen ich Angst hatte. Der Spiegel, den ich aus tausenden Splittern zusammensetzen musste. Es gab ihn, den Splitterspiegel.Immer, wenn ich in diesen Spiegel blickte, wusste ich, wer ich war. Ich wusste nur nicht, ob ich mir gefallen konnte.
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