Der Wurm

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„Ich muss dir etwas sagen", wisperte sie leise, „Ich...bin schwanger." Die Worte hingen in der kalten Luft des Zimmers. Sie breiteten sich aus wie Nebelschwaden, türmten sich auf, purzelten herum und schlugen über ihrem Kopf zusammen. Sie versetzten ihr Tritte und Kratzer, zerfurchten ihr Gesicht und füllten den Raum so drückend, als würde sie sich in einer kleinen, engen Gefängniszelle befinden. Sie mischten sich mit dem Dampf, der in dem kleinen Badezimmer herumwaberte und zersetzten ihn in Säure, die ihre Haut zum Schmelzen zwang. Alles tat mit einem Mal so höllisch weh und die Worte, die in der Luft herumstrampelten machten alles real. Sie hatte das Gefühl, dass mit dieser Aussprache, die sie gerade getätigt hatte, das Grauen erst zur Wirklichkeit geworden war. Bevor sie es ausgesprochen hatte, hatte sich ihr Gehirn gegen alle Vernunft einzureden versucht, dass das alles nicht wahr ist. Dass es nicht passierte, dass sie nicht hier stand und sich darüber den Kopf zerbrechen musste. 

Sie schluckte schwer und starrte ihr Spiegelbild an, das zwischen all dem Dampf kaum zu erkennen war. Doch es könnte auch an ihren Tränen liegen, die sich wieder in ihren braunen Augen bildeten. Ihre Hand wanderte wie von einem unsichtbaren Macht oder einem Magneten angezogen zu ihrem Bauch. Es konnte einfach nicht stimmen. Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen ihrer Wunschkraft. Das war ein Albtraum. Sicher würde sie gleich aufwachen und alles wäre wie vorher. Wie noch vor wenigen Stunden. Normal. Ohne Desaster. 

Es durfte einfach nicht wahr sein. Doch sie hielt das Ergebnis in der blassen Hand. Das Ergebnis des fünfzehnten Schwangerschaftstest. Sie war fünfzehn Mal schwanger. Es war nicht mehr zu leugnen und doch versuchte sie es, während ihr die Worte wie Gift in der Kehle brannten und sie zum Weinen zwang. Sie holte zitternd Luft, versuchte irgendwie ihre Lungen mit rettendem Sauerstoff zu füllen, doch es funktionierte nicht. Sie drohte zu ersticken. An Angst, an Panik, an allem, was dieses Ergebnis giftiges in ihrem Körper auslöste. 

Sie musste etwas tun, musste etwas unternehmen. Sie musste zum Arzt und es weg machen lassen. Weg machen. Ihre Finger malten bei diesem Gedanken kreise um ihren Bauch. Ungefähr dort wo dieser Wurm jetzt saß, der drohte ihr Leben zu zerstören oder einfach gerade ihre Welt in Trümmern setzte. Dieser Funke von Leben, den sie gerade erschuf. Dieser Funke von Leben, der ganz und gar auf ihre Entscheidungen angewiesen war. Dieses Ding, das weder einen Namen noch ein Geschlecht hatte. Diese Kaulquappe, die wohl einmal ein Mensch werden würde. Würde sie es töten können? Dieses ES? 

ES. Ein seltsamer Name für neues Leben. Aber wie sollte sie es sonst nennen? Wenn sie diesem Etwas einen Namen geben würde, würde das bedeuten eine Bindung dazu aufzubauen. Das würde alles noch viel schlimmer machen. Das würde alles noch viel mehr zerstören. Wütend begann sie die Schwangerschaftstests zusammen zu sammeln. Es war grauenvoll. Sie war alleine, sie war ohne Einkommen, sie war jung, sie war nicht bereit für sowas. Sie war ein Kind. Ein KIND! Kinder dürften nicht schwanger werden. Oder vielleicht wünschte sie sich auch einfach, dass sie noch ein Kind war. Sie wünschte sich in dem Moment zurück in den Sandkasten, wo sie mit Eimer und Schaufel Sandkuchen gebacken und ihren besten Freund gezwungen hatte sie zu essen. Wo sie sich gegenseitig mit Schlamm beschmissen hatten, Fangen auf dem Schulhof spielten. 

Fangen spielten. Fangen. Das winzige kleine Wort löste in ihrem Kopf eine Flutwelle von Erinnerungen aus. Eine klopfte am aller stärksten von Allen an ihre Schädelwand. Schule. Sie musste noch zu Schule. Sie hatte noch keinen Abschluss, keine Ausbildung. Nichts, mit dem sie es je schaffen würde ein Kind aufzuziehen. Die Tüte der Apotheke füllte sich mit Schwangerschaftstests. Sie knotete sie zu und schlich mit dem Müll in ihr Zimmer. Die Dielen knarzten unter ihren nackten Füßen. Niemand war im Haus. Ihre Mutter würde erst später vom Einkaufen zurückkommen. Sie war am Morgen zu Hause geblieben, weil es ihr nicht gut ging. Nicht nur, weil sie schon seit mindestens drei Wochen überfällig war, sondern auch, weil sie jeden Morgen über dem Klo hing und sich die Seele aus dem Körper kotzte. 

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