12. Das Auto

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Im nächsten Moment ließ er mich los. Doch anstatt zu fallen, stolperte ich einige Schritte zurück, bis ich wieder in sicherer Entfernung stand - vom Abgrund und auch von Ben.

„Was soll der Scheiß?", fuhr ich ihn an, noch vollkommen unter Schock. Meine Höhenangst war so extrem ausgeprägt, das ich ab dem zweiten Stockwerk nichtmalmehr aus dem Fenster sehen konnte.

Ben kam auf mich zu, nahm dann meine zitternden Hände in seine und flüsterte, als er ganz nah bei mir stand: „Hey... hey, keine Sorge. Sieh nach oben. Sieh, wie weit entfernt der Himmel ist. Wir sind auf der Erde. Tausendmal näher am Erdboden, als am Himmel. Mach dir keine Sorgen."

Er löste seine rechte Hand aus meiner und legte sie unter mein Kinn, um meinen Kopf sanft nach oben zu drücken. Mein Blick wanderte zum sternenklaren Himmelszelt, das sich in den dunkelsten Tönen über uns erstreckte und auf dem Abermillionen von Sternen funkelten wie winzige Diamanten. Ich erkannte den großen Wagen, das einzige Sternbild, das ich jemals am Himmel wiederfand.

Als mein Atem sich beruhigt hatte, richtete sich mein Blick wieder auf Ben, der die ganze Zeit über in seiner Position verharrt hatte, eine Hand mit meiner verschränkt und die andere unter meinem Kinn.

Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als diesen Moment festzuhalten. Ihn in eine Schneekugel zu stecken, wo er, durch das dicke Glas geschützt, für immer existieren würde, nur darauf wartend, dass jemand kam und das Glas schüttelte, sodass die Schneeflocken um uns wirbelten und den Moment wiederbelebten.

Doch das Glas der Schneekugel zerplatzte, genau wie der Moment, als Ben begann, sein Verhalten zu erklären: „Als ich klein war, hatte ich unglaubliche Höhenangst, ich konnte nicht mal auf dem Klettergerüst spielen, so schlimm war es. Aber mein Vater hat mich immer wieder damit konfrontiert, indem er mit mir auf Kirchtürme und was weiß ich nicht alles geschleppt hat. Ich hab ihn dafür gehasst, aber irgendwann hab ich mich daran gewöhnt und die Höhe hat mir nichts mehr ausgemacht. Ich hatte keine Angst mehr."

Ich seufzte tief. „Das hat vielleicht für dich funktioniert, Ben, aber nicht für mich! Du hattest kein Recht dazu."

„Tut mir ja Leid...", murmelte er und sah mich mit einem unglaublich süßen Hundeblick an, „Frieden?"

Ich stand nur unentschlossen da, doch da kam er schon noch näher, als er ohnehin schon war. Stille erfüllte die Nacht, breitete sich in der ganzen Luft und meinem gesamten Körper aus.

Dann lag ich plötzlich in seinen Armen, sodass mein Kopf wurde an seine Brust gepresst wurde.

„Ich hab so ein Gefühl, als ob wir uns schon ewig kennen würden... als wären wir früher beste Freunde gewesen und hätten uns nur aus den Augen verloren und dann vergessen."

Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln. Auch er kam mir schon unglaublich vertraut vor, auch wenn ich nie einschätzen konnte, was er als nächstes tun, oder wie er reagieren würde.

Aber eine andere Frage bedrückte mich schon die ganze Zeit: „Warum ich?", fragte ich, „Warum gibst du dich ausgerechnet mit mir ab?"

„Hm... wahrscheinlich, weil du aussahst, als ob du genauso sehr hier weg wolltest, wie ich. Als du mir in die Arme gelaufen bist, da... naja, da hab ich's einfach gewusst.", murmelte er in meine Haare.

Ich lachte. Er hatte Recht, zu diesem Zeitpunkt, als ich ihm mitten in der Nacht vor meinem Zimmer umgerannt hatte, vollkommen von den Medikamenten benebelt, wollte ich so schnell es geht aus dieser Irrenanstalt entkommen. Doch auch wenn es paradox klang, jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher.

Aber ich hatte keine Zeit zu antworten, denn er löste sich bereits von mir und zog mich weiter. „Komm!"

Ich wurde hinter ihm her geschleift wie eine leblose Puppe, immer noch darüber nachgrübelnd, ob das Ganze wirklich eine so gute Idee war, bis wir an einem verrosteten Eisengeländer ankamen, an dem sich kleine Eddingkritzeleien und Graffiti, zusammen mit der Farbe, von den rostigen Stangen abpellten. Leider befand sich dieses wieder in unmittelbarer Nähe des Abgrunds.

Of Foxes and FailureWo Geschichten leben. Entdecke jetzt