Das Leben verlief nie so, wie man es sich wünschte. Dachte man, man sei endlich angekommen, dort wo man hinwollte und für immer bleiben, dann kam dieser böse dunkle Mann namens Schicksal und streckte einem die Zunge raus. Dieser Mann namens Schicksal war wohl oder übel auch dafür verantwortlich, das ich bereits weniger als achtundvierzig Stunden später wieder im selben Krankenhauszimmer, meinen zu Tode besorgten Vater an meiner Seite, lag und in Erinnerungen versank.
Als ich meine Augen aufschlug, war der warme Körper neben mir verschwunden. Alle Decken lagen über meinem Körper verteilt und ich lag ausgestreckt auf der Rückbank. Es war so kalt, dass die Scheiben von außen zugefroren waren, sodass ich nichts erkennen konnte, außer den leeren Innenraum von Carmen.
Wo war Ben? Mühsam rappelte ich mich auf, bei jeder kleinsten Bewegung dröhnte mein Kopf und meine Augen fielen immer wieder zu. Doch die Sorge um Ben trieb mich weiter, sodass ich bald, in eine dicke Decke gehüllt, auf einem Feldweg vor dem Wagen stand und auf ein kahles Stück von Tau überzogenen Boden, der wohl einmal ein Feld gewesen sein musste, und einen angrenzenden Kiefernwald blickte.
Entschlossenen Schrittes machte ich mich auf, bis die Bäume mich schützend in ihre Arme nahmen, bis ich mich vollkommen in der Natur verstrickte. Auf der Suche nach Ben lief ich einen schmalen Wildwechsel entlang und passierte graue Dornen und in der aufgehenden Sonne glitzernde Spinnennetze, die sich zwischen den Bäumen aufspannten, als wollten sie mich fangen.
Dieser Wald erinnerte mich so sehr an den vor meiner Haustür, dass ich unmittelbar wieder an Versus denken musste, der in den letzten Tagen durch Ben fast vollständig aus meinen Gedanken verschwunden war. Versus war tot, und das versetzte mir erneut einen Stich ins Herz, auch wenn dieser nicht mehr ganz so schmerzvoll war, wie noch vor einigen Wochen.
„Ben?", rief ich vorsichtig, denn in diesem kalten Wald wurde es, je weiter man ging immer ungemütlicher, außerdem machte ich mir Sorgen um ihn. Ich hatte wirklich genug davon, immer wieder durch den Wald zu irren und jemanden zu suchen.
Hilfesuchend blieb ich stehen, nahm den Wind, der durch die dürren Äste rauschte und den Geruch nach Kälte wahr, während ich mich einmal, zweimal um die eigene Achse drehte.
Plötzlich traf mich ein Kiefernzapfen hart an der Schulter, sodass vor Schreck zusammenzuckte und mein Blick diesmal an den Stämmen der Bäume empor wanderte. Doch es brauchte noch einen weiteren Zapfen, bis ich die Gestalt ausmachen konnte, die rund zehn Meter entfernt auf einem dicken Baum saß und die Beine über den Ast, der gerade so sein Gewicht zu tragen schien, baumeln ließ.
„Oh Gott, Ben!", rief ich, „Komm sofort da runter!"
Dieser Mistkerl wusste doch genau, dass ich es nicht ertragen konnte, jemanden in solch luftigen Höhen zu sehen. Doch er ließ mich noch etwas zappeln, bis er vorsichtig hinunterkletterte und schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Bis dahin hatte er noch kein Wort gesprochen und auch jetzt drehte er sich mit ernster Miene zu mir um.
„Marta, ich muss mit dir reden", sagte er ernst. Na toll. Warum, lieber Gott, musstest du immer alles zerstören? Eine ungute Vorahnung machte sich in meinem Bauch breit wie ein ungebetener, nur zu bekannter Gast.
Er fuhr fort, während er durch den Wald stapfte: „Das mit gestern Nacht... Es tut mir echt Leid, aber das hätte nicht passieren sollen."
„Was?", erwiderte ich ungläubig, schließlich hatte es sich gestern nicht so angefühlt, als hätte irgendwas nicht passieren sollen. „Warum nicht?" Mein Herz begann wild zu pochen, diesmal aus Angst vor den Worten, die er mir mitteilen würde.
„Es... es gibt da ein Problem", stotterte er und kickte einen Ast mit dem Fuß zur Seite, bis wir uns auf einen umgefallenen Baumstamm niederließen. „Ich hab eine Freundin"
„Was?", rief ich entsetzt und sprang sofort wieder auf, „Du hast was?"
„Es tut mir leid. Zuerst dachte ich, du und ich wären nur Freunde, aber dann... es hat sich irgendwie so entwickelt und ich konnte es nicht aufhalten. Wie ein Zug, bei dem die Bremsen kaputt sind, sodass er immer weiter rast, bis er irgendwo gegen kracht und explodiert."
„Das ist unsere Explosion."
„Das ist sie", bestätigte er.
Ich seufzte tief und versuchte irgendwie, diese Information zu verdauen, während sich mein Magen umzudrehen drohte und meine zitternde Hand an die Stirn legte. Das Wort Explosion beschrieb die Situation wirklich hervorragend. Katastrophal. Unvorhergesehen. Welten erschütternd und zerstörend.
„Es tut mir so leid", wiederholte Ben und kam auf mich zu. In seinem Gesicht spiegelte sich mein eigener Schmerz und zum ersten Mal an diesem Tag blickte ich in seine golden schimmernden Augen, aber es war auch das erste Mal, dass ich bei deren Anblick keine Gänsehaut bekam und mir wünschte, darin zu versinken. Nein, eher wünschte ich mir, diese Augen nie wieder sehen zu müssen.
Flehend streckte er die Arme aus, doch ich wich zurück. „Du kannst mich mal", flüsterte ich, während ich mühsam darum kämpfe, die Tränen zurück zu halten und die Fassung zu bewahren. Ich hatte dieser Person vertraut. War mit ihr weggelaufen, ohne sie richtig zu kennen, einfach weil das Gefühl richtig gewesen zu sein schien. Tja, da sah man mal wieder, wie sinnlos und falsch meine Gefühle waren, wie sie mich immer wieder in die Irre leiteten.
Nach einem Moment, der so zäh verging, als wäre er aus Gummi, drehte Ben sich um und ging durch den Wald, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Vollkommen unter Schock ließ ich mich zurück auf dem Baumstamm sinken und beobachtete, wie die schlaksige Silhouette im zu großen Parka durch den Wald stapfte und schließlich verschwand, während sich meine Arme fest um den Bauch pressten.
Ich hatte meine Mauern fallen gelassen, ihn in mein Inneres gelassen und mein Herz geschenkt. Doch das hatte er auf den Boden geschmissen und war darauf rumgetrampelt, nur um es jetzt mitzunehmen und mich leer wie ein hohler Baumstamm zurückzulassen.
Ich spürte bereits, wie die Tränen heiße Schlieren auf meine Wangen zogen, wie meine Verzweiflung zunahm und alle anderen, sinnvolleren Gedanken verdrängte. In diesem Moment würde ich nichts lieber tun, als ihm hinterher zu laufen, zu betteln und zu flehen wie ein kleines Kind. Doch auch wenn mein Herz gebrochen war, mein Stolz war es nicht und so verharrte ich nur regungslos und krallte die Finger in die Decke.
Ich hätte mir nie vorstellen können, dass unerwiderte Liebe so schmerzen konnte. Doch war ich überhaupt in ihn verliebt gewesen? Konnte man sich innerhalb von drei Tagen in eine Person verlieben? Ich wusste es nicht, aber der Schmerz, den ich fühlte war verdammt echt und ich spürte, wie mein Herz bei jedem seiner hektischen Schläge mehr zerbrach, bis es nur noch staubfeinen Krümeln glich, die meine Lunge benetzten wie Asche.
Und trotzdem hatte ich das Bedürfnis, ihm nachzulaufen. Sicher war alles nur ein Missverständnis, alles würde sich von selbst aufklären, Ben würde mich in seine warmen Arme schließen und es gäbe noch Hoffnung. Wunschdenken.
Es dauerte lange, bis ich in der Lage war, mich aufzurichten und irgendwie fand ich den Weg zwischen den hohen Kiefern hindurch, zurück an den Waldrand und auf den Feldweg. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber von Bens Auto war nichts mehr zu sehen, nur hektische Reifenspuren erinnerten daran, dass es einmal hier gewesen war.
Verloren stand ich da, musste daran denken, wie ich wohl für eine fremde Person in diesem Moment aussehen musste: das Gesicht von den Wasserfällen an Tränen so rot wie meine wildverstrubbelten Haare, ein gehetzter Blick in den Augen und in eine übergroße Wolldecke eingewickelt. Wie ein gehetztes Tier oder eine Vogelscheuche. Und wie eine Mischung aus diesen zwei Kreaturen fühlte ich mich gerade auch.
DU LIEST GERADE
Of Foxes and Failure
General Fiction"Bücherfanatikerin, Bleistiftliebhaberin, Morgenmensch und Teetrinkerin. Kaffeehasserin. Einzelgängerin. Doch bin das ich? Wenn ihr das jetzt gelesen habt, wisst ihr, wer ich bin?" Die einzige Bezugsperson von Marta ist ein Fuchs. Doch nach einem s...