Mamá - Januar 2004

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„Buenos días, Marta, mi corazón. ¿Qué tal?".

Die klare Stimme von Mamá drang an meine Ohren und ich war so glücklich, wie noch nie, an diesem sonnigen Tag in Spanien. Denn heute war der neunte Januar 2004, der Geburtstag meiner besten Freundin María. Sie wurde bereits sieben Jahre alt und war damit ein Jahr älter als ich. So dürften wir beide diesen Sommer endlich auf eine richtige Schule in Madrid gehen, sodass ich nicht mehr jeden Tag zuhause auf der Chagra sein müsste, sondern mit Papá in die Stadt fahren könnte.

Leider könnte ich dann aber auch Lola, meine einmonatige Schwester, nicht mehr rund um die Uhr sehen. Zum Glück arbeiteten Mamá und Papá direkt auf der Chagra, sodass sie nicht zu einer Tagesmutter oder in die Krippe musste.

Trotz der Jahreszeit hatte es noch kein einziges Mal geschneit und die Sonne wärmte meinen Rücken, sodass auch Mamá nur ein dünnes T-Shirt trug. Sie saß direkt vor mir auf einem der jungen Pferde, ich glaube es war ein Araber, und schaute mich liebevoll an.

„Muy bien", antwortete ich, sobald das Zitronensorbet auf meiner Zunge vollständig geschmolzen war.

Sie lachte und ließ das nervöse Pferd weitergehen, aber ich blieb am Zaun des riesigen, staubigen Reitplatzes stehen und beobachtete sie. Wie sie dahinflog, die langen Haare im Wind wehend, wie ein Engel. Sie war ein wahrgewordener Engel. So nannte Papá sie auch manchmal: ángel.

Noch wusste sie nicht, dass sie heute zum letzten Mal fliegen würde.

Nachdem mir beim beobachteten, wie sie das neue Pferd einritt, langweilig wurde, drehte ich den Kopf und sah auf das Haupthaus der Chagra, auf dessen hölzerne Veranda meine Abuela saß und uns beobachtete. Mit ihren schwarzen, am Ansatz und den Schläfen schon leicht silbernen Haaren und dem stechenden Blick erinnerte sie mich an eine ältere, weisere Version von Mamá. In ihren Armen schlief Lola, und man spürte, dass die beiden genau an diesen Ort gehörten.

Auf der rechten Seite des großen Hauses stand Papá auf einer wackligen Holzleiter und diskutierte wild mit einem der Arbeiter, die um ihn herum, entweder auf dem Boden oder dem Dach des Hauses standen. Ich glaube, sie versuchten gerade irgendetwas zu reparieren, aber konnten sich nicht einigen, sodass einer der Arbeiter wild losschimpfte: „¡Joder! ¡Eres gilipollas, deja de comerme la oreja!"

In diesem Moment ließ irgendjemand irgendetwas los, sodass ein riesiges Metallrohr, vom wütenden Schimpfen der Männer begleitet, auf den Boden fiel und so einen Höllenlärm machte, dass Lola anfing zu schreien und ich mich ruckartig umsah.

Mamás Pferd begann durchzugehen, stieg zuerst, wobei sich Mamá gerade noch so auf dem Rücken des jungen Arabers halten konnte, und rannte dann wie vom Teufel höchstpersönlich besessen, los. Aber irgendetwas, ich konnte nicht sagen was, hatte plötzlich die Beschleunigung aus der Welt genommen. Wie in Zeitlupe rauschte Mamá, die nur noch schief auf dem Pferderücken hing, an mir vorbei und ich konnte alle Details wahrnehmen:

Ihre großen, weitaufgerissenen Augen, aus denen der Schock schrie.

Die wilden Haare, die nicht unter einem Helm verborgen waren und frei im Wind flatterten, wie die spanische Flagge auf dem Dach der Chagra.

Ihre dünnen Finger, an denen die Knöchel schon weiß hervortraten, die die Zügel festumklammert hielten.

Auch die schweißbedeckten Muskeln des Pferdes, auf denen dicke Adern pulsierten, erkannte ich glasklar.

Das kohlrabenschwarze, glänzende Fell.

Die weit geblähten Nüstern und aufgerissenen Augen.

Dann sprang das Pferd so abrupt zur Seite, das Mamá in hohem Bogen von seinem Rücken geschleudert wurde, wie die Dummys bei simulierten Autounfällen. Nur dass hier nichts simuliert war.

Sie krachte gegen die Holzbande, nur einige Meter von mir entfernt, und fiel dann stöhnend zu Boden. „Mamá!", schrie ich entsetzt und schlug mir die kleinen Händchen vor den Mund. Schon kam jeder einzelne Bewohner und Besucher der Chagra angerannt und versammelte sich um den Platz. Einige versuchten, das Pferd wieder einzufangen während irgendjemand den Notarzt rief und Papás Rücken Mamá komplett aus meinem Sichtfeld nahm.

In diesem Moment war ich nicht fähig, zu denken oder zu fühlen. Wie eine leere Hülle stand ich da, das kleine Mädchen, das von niemandem beachtet wurde, der stille Gegensatz zum hektischen Treiben um mich herum.

Ich habe Mamá direkt nach dem Unfall nicht zu Gesicht bekommen, oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.

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Das nächste was mir ins Gedächtnis kommt, ist eine Szene im Krankenhaus, nur wenige Tage später. Verzweifelt hielt ich die Hand von Papá umklammert und ging zögerlich den Gang entlang, bis ich vor ihr stand.

Mamá lag, von dicken weißen Decken umschlungen, in ihrem Bett, die Augen verquollen und zusammengepresst, als wollte sie den Schmerz vor mir verbergen, der sich darin spiegelte. Aber ich nahm alles wahr. Der lange Schlauch der in ihren unverletzten Arm gesteckt war, die blauen Flecken und Kratzer an der ganzen rechten Körperseite. Der dicke Kopfverband, aus dem verknotete Haarsträhnen hingen.

Sie war ein gefallener Engel.

„Marta, ¿qué tal?", krächzte sie aus ihren aufgesprungen Lippen und bemühte sich, möglichst normal zu klingen und sogar zu lächeln.

Trotzdem hatte ich Angst vor ihr. Denn das war nicht meine Mamá, so schwach und ohne das Leuchten in den Augen. Ich antwortete nicht.

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Papá versuchte mir in Ruhe zu erklären, warum Mamá nie wieder laufen, geschweige denn reiten, könnte. Er benutzte Wörter wie „Querschnittslähmung", „Rückenmark" und „nicht zu retten", aber ich verstand ihn nicht. Erst als Mamá Wochen später in einem Rollstuhl ins Haus gefahren kam, verstand ich.

Denn sie war wirklich ein gefallener Engel. Zu hoch geflogen, um sicher zu landen.

Die gesamte Chagra versank in Trauer, Mamás Schreie vermischten sich mit Lolas und wurden so unerträglich, dass ich mich bald kaum noch aus meinem Zimmer traute.

Aber eines Tages verstummten die Schreie. Papá war gerade mit Lola in die Stadt gefahren, während meine Abuela auf Mamá aufpassen sollte, die seit Tagen entweder gar nichts tat, oder schrie. Ich sah sie nicht oft, hauptsächlich, weil sie nie aus ihrem Zimmer kam, aber das abrupte Abreißen der Schreie machte mich stutzig, sodass ich vorsichtig in ihr Zimmer schlich.

Das Bild, das sich mir an diesem Abend bot, würde ich wohl nie aus meinem Kopf bekommen:

Der schlaffe Körper, der von der Decke baumelte, einen Halfterstrick für Pferde um den Hals.

Wie der dunkelblaue Stoff tief in den von Kratzspuren überzogenen Hals schnitt wie ein Messer.

Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wollte sie gleich etwas sagen.

Aber wenn man ihre Augen sah, wusste man, dass es unmöglich war. Sie waren weit aufgerissen, die Pupillen geweitet. Und leer.

Aschenputtel nach dem traurigen Ende des Balls.

Ein gefallener Engel.

Mamá.

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Monate später verließen wir Spanien - nur Papá, Lola und ich. Wir ließen alles hinter uns, die Pferde, meine Abuela, unsere Freunde, die Chagra. Mamá. Und den Schmerz.

Zumindest dachten wir das.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 21, 2016 ⏰

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