04 | Abschiedsworte

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k a p i t e l v i e r

[ a b s c h i e d s w o r t e ]

Der nächste Tag war angebrochen. Der Himmel hatte eine zärtliche Rötung angenommen und war mit flauschigen Wolken bepinselt. Die Luft war kühl, glasklar und die taufeuchten Grashalme auf den sanft abfallenden Hügeln, glänzten in der aufgehenden Sonne auf.

Asya kippte ihr Fenster offen und sog die kalte Luft in ihre Lungen ein. In wenigen Stunden würde sie das Dorf mit ihrem Verlobten verlassen, wie es ausgemacht worden war. Sie würde in seine Heimatstadt fahren, wo die geplante Hochzeitszeremonie wenige Wochen danach stattfinden würde. Was dies zu ihrem letztem letzten Tag im Dorf machte. Sie atmete die eiskalte Luft wieder aus und schloss die Augen.

Dann drehte sie sich von dem Fenster davon und sah wieder auf die Schneidepuppe. Das Kleid, was sich an ihrem Holzkörper schmiegte, war wunderschön und aus edlem Stoff gewebt. Jedes Mädchen im Dorf besaß über so ein prunkvolles Gewand, wenn sie das Haus ihrer Eltern verließ und heiratete. Es verkörperte die Erhabenheit dieses Mädchen, ihren Wert und Stand in der Gesellschaft.

Asya rümpfte die Nase, doch konnte nicht verleugnen, dass es wunderschön war - wunderschön und widerwärtig zur selben Zeit.

Sie nahm mit zittrigen Fingern das Kleid von der Schneidepuppe ab und betrachtete es näher. Es war in einem kostbaren kobaltblau geschneidert worden und mit funkelnden goldenen Fäden eingewebt, die sich zu feinen Mustern wandten und im trüben Licht der Morgensonne flimmerten.

Die anderen Dorfmädchen würden vor Neid platzen, wenn die sie in diesem Kleid sähen, doch Asya fand es zu überladen, zu aufwändig. Sie hätte am liebsten eines ihrer ausgefransten und verwaschenen Kleider getragen, aber wusste, dass ihre Großmutter ihr deshalb wahrscheinlich den Nacken brechen würde.

Sie hatte ziemliche Probleme damit, als sie versuchte, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen, da es aus mehreren Röcken bestand. Sobald sie fertig war, stellte sie sich vor den großen Spiegel und beobachtete sich eindringlich. Das Kleid schmiegte sich enger an ihre Kurven, als ihr lieb war. Asya löste ihren Zopf mit ungeschickten Händen und ließ die Kaskade aus dunklen Locken über ihre Schulter fallen. Ihre hohlen Wangenknochen stachen sofort heraus; die goldene Hautfarbe, die ihre Arbeit im Freien kennzeichnete; die wilden Augen, die müde und aufmerksam zur selben Zeit wirkten; das ausgemergelte Gesicht.

Sie hasste ihr Aussehen.

„Du wirst das schaffen", flüsterte sie sich zu. „Du wirst ihn heiraten und frei sein. Du wirst nicht zulassen, dass er dich kontrolliert, wie sie es getan hat." Asya schauderte, als sie daran dachte, wie oft die Männer im Markt ihren Frauen über handgreiflich wurden; wie kontrollierend sie sein konnten und manche von ihnen nie ihr Haus verließen. Ihre Großmutter hatte ihr nur einen Vorgeschmack gegeben, was der Beraubung ihrer Freiheit als Mädchen angelangte. „Du wirst glücklich werden."

Wieso fühlte sie sich aber nicht glücklich? Das war doch, was sie wollte - nicht wahr?

„Bist du fertig?"

Asya zuckte zusammen und drehte sich zu ihrem Großvater um. Sie lächelte und nickte: „Ja."

„Die Gäste sind schon unten", sagte er. „Sie alle warten auf dich, komm in fünf Minuten nach."

„Verstanden."

„Asya?"

„Ja?", fragte sie und scharrte verlegen mit ihrem Fuß auf den Boden.

„Du siehst wunderschon aus", wisperte er. „Genau wie deine Mutter, einst ausgesehen hatte."

Asya spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten und biss sich auf die Lippe. Dann vollführte sie einen kleinen Knicks, der ihre Dankbarkeit ausdrücken sollte. Als sie sich wieder in die Augen sahen, sagten ihre Blicke Bände; Sachen die ungesagt zwischen ihnen lagen und in der Stille sprachen.

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