Gefallene Blätter

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Edanna

Ihr Atem ging stoßweise und unkontrolliert wie ihr Herzschlag.
Sie würde langsamer laufen müssen, wenn sie noch Kraft haben wollte, sobald sie ihr Dorf erreichte, aber Edanna wurde von ihrer eigenen Unruhe vorangetrieben.
Sie lief weg und gleichzeitig zurück.
Fort vom Tod ihres Freundes und vielleicht geradwegs wieder in die Arme seines Mörders.
Lias ist tot!
Die grausame Wahrheit ließ sie nicht entkommen und drang immer tiefer in sie ein wie Gift.
Ständig stiegen neue Tränen in ihr auf, aber die Wölfin schluckte sie mit aller Macht herunter. Würde sie einmal von neuem anfangen würde sie vielleicht nicht mehr aufhören können und es half nichts um Lias zu weinen, sie konnte immer noch den Tod ihrer Stammesangehörigen verhindern.
Der Gedanke ließ sie durchhalten und gab ihr ein Ziel. Der Himmel über ihr war noch immer grau und die Bäume um sie herum verfielen weiter zu Asche ähnlichem Staub. Daran andere sich auch nichts, je näher sie ihrem Dorf kam und immer mehr Verzweiflung stieg in der jungen Frau hoch.
Mit der Dämmerung erreichte sie die Ausläufer der Baumhäuser und musste mit Schrecken feststellen, dass die sonst um diese Zeit brennenden Fackeln verschwunden waren.
Sie waren allem Anschein nach mit roher Gewalt von den dicken Stämmen abgerissen worden.
Hastig lief sie weiter und stolperte dabei fast über tiefe Räder und Hufspuren im Boden. Um sie herum herrschte frostigen Stille, niemand kam ihr entgegen und alles wirkte wie tot. Edanna erreichte den alten Versammlungsplatz, bei seinem Anblick verließ sie alle Kraft und ein verzweifelter Schrei brach aus ihrer Kehle, gefolgt von heftigem Weinen.
Was ihr Weg sie schon hatte erahnen lassen, erwies sich nun als blutige Wahrheit. Die größten Bäume und Hütten lagen zerhackt und verstreut auf dem Boden. Darum und manche auch darunter lagen Körper, entweder voller Blut oder in abartigen Verrenkungen. Ihre Augen waren leer, ihre Gesichtszüge erschlafft und dennoch haftete ihnen noch das Grauen der scheinbar plötzlichen Vernichtung an.
Das Blutbad, die Leichen der Menschen, die sie ihr Leben lang begleitet hatten geschunden und achtlos liegen gelassen.
Sie wünschte sich nur noch aufzuwachsen aus diesem Alptraum, dass all das Blut wieder dem Laub der gefällten Bäume und die Leichen wieder den lebendigen Gemütern ihrer Freunde, der Männer und Frauen ihres Volkes wichen.
Aber sie wachte weder auf, noch konnte sie etwas tun.
Du hättest sie retten können...
Eda war immer eine starke Persönlichkeit gewesen und alles andere empfindlich, doch das Unglück dieses Tages hatte sie wie ein Schattstrengrrollt und blieb ebenso an ihrer Seele haften.
Es vergingen Stunden, bis sie sich mit aller Macht zwang langsam aufzustehen, den Abscheu zu unterdrücken und nach den Überresten ihres alten Hauses zu suchen. Neue Angst stieg in ihr hoch.
Was war mit ihren Eltern? Ihrem Bruder? Sicher war auch sie den Ungeheuern zum Opfer gefallen.
Sie wollte sie nicht sehen, wollte sie so in Erinnerung behalten wie sie waren. Lebendig, streng, vertraut, stark, fröhlich und nicht zerquetscht, blutig mit leeren Blicken.
Auf wackeligen Beinen und die Arme fest um sich geschlungen, setzte sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Sie meinte einige bekannte Gesichter zu erkennen, wollte aber nicht näher hinsehen um sicherzugehen. Ständig begegneten ihr neue Schreckensbilder.
Nur mit festem aufeinander pressen der Lippen, ständigem tiefem ein- und Ausatmen gelang es ihr sich nicht zu über geben.
Ein wenig entfernt vom Versammlungsplatz stieß sie schließlich auf die Trümmer ihres eigenen Hauses.
Es war völlig zerstört, die alte Buche lag gefällt über einigen Brettern und neben der schlaffen Strickleiter.
Auf den ersten Blick fielen Edanna keine weiteren toten Körper ins Auge, sodass sie es wagte näher zu treten.
Sie traute sich kaum sich umzuschauen oder einige der Bretter umzudrehen, aber sie tat es schließlich doch um nach verbliebenen Habseligkeiten zu suchen.
Immer noch die Wölfin.
Zwischen losem Holz, Ästen und zerbrochenen Möbelstücken fand sie leider unbrauchbare Überreste der Jagd Utensilien ihres Vaters, eine verdreckte,aber intakte Wolldecke, immerhin ein heiles Hemd und den Kamm ihrer Mutter, den sie als Andenken hastig aufklaubte.
Vorsichtig ging sie die nahe Umgebung ab und wagte es sogar in der Nähe, der ehemaligen Nachbarsbäume zu gehen, aber sie fand nichts mehr.
Ihre Familie lag vermutlich irgendwo auf dem Versammlungsplatz, aber sie fürchtete sich zu sehr davor sie zu suchen, obwohl sie gleichzeitig gerne Abschied genommen hätte.
So entschied sie sich zunächst ihre Sachen aufzusammeln und dann mit Hilfe zweier Feuersteine und toten Zweigen die kläglichen Überreste ihres alten Hauses niederzubrennen.
Es dauerte eine Weile, bis die orangenen Flammen jedes Stück Holz und Stoff fanden und es in ihren glühenden Armen auflösten, bis nur noch Asche und verkohlte Blätter am Waldboden übrig blieben.
Edanna vergrub jedes Körnchen, bis nichts mehr von ihrem alten Heim zu sehen war, häufte Äste darüber und suchte nach lebendigen Pflanzen.
Um sie herum war nur der Tot, sodass sie stattdessen ein gepresstes Buschwindröschen des letzten Frühling bedächtig auf den kleinen Haufen legte.
Es war kein richtiges Grab, aber trotzdem gab es ihr das Gefühl von den Toden wenigsten einigermaßen Abschied genommen zu haben.
Eine Weile verweilte sie und bat den Wald stumm gut für sie zu Sorgen.
Das Wervolk verehrte keine Götter, sie glaubten, dass sie aus dem Wald gekommen waren und wenn sie starben in ihn zurück gingen.
Vielleicht alt Vögel, manche als Pflanze oder als Teil eines Baumes.
Irgendwann riss sie sich los und lief wieder in lockerem Tempo los, diesmal nur weg.
Angst saß weiterhin in ihren Gliedern, vor dem Ungewissen und vor den Monstern, die ihr an einem Tag alles genommen hatten.
Eda wollte nur noch fort, ohne zu wissen, ob ihr Leben noch einen Sinn hatte. Alle Menschen die sie gekannt hatte waren fort. Um sie herum war nur der sterbende Wald, in dem sie selbst sich mehr wie ein Geist vorkam.
Der düstere Himmel über ihr wurde allmählich schwarz und eine Nacht ohne Mondlicht und Sterne zog über ihren Kopf. Sie wollte nicht anhalten um zu rasten, zwar waren ihre Glieder so müde, wie seit Ewigkeiten nicht und ihre Augen sehnten sich danach geschlossen zu werden, aber sie wollte so weit weg, bis die Bäume wieder Blätter trugen und sie den bösen Träumen nicht so nah war.
Also lief sie weiter, allein durch Unterholz, Querfeldein und niemals fallend.
Die spitzen Äste klatschten ihr hart ins Gesicht und die scharfen Dornen zerstachen ihre Hände und rissen an ihrem Mantel.
Am liebsten hätte sie ihre Wolfsgestalt angenommen, aber sie wusste um das Vergessen, dass das zu lange verbleiben in Wolfsgestalt brachte und so angenehm der Gedanke auch war, alles hinter sich zurückzulassen wollte sie ihr Dorf nicht verraten und ihr Leben nicht aufgeben.
Denn in sich spürte sie trotz oder gerade wegen allem den Wunsch zu Leben. Allmählich wechselte der Himmel über ihr von schwarz zu grau. Das Blätterdach wurde wieder dichter, nahm seine herbstliche Farbe an und die ersten Tiere ließen sich wieder blicken.
Irgendwann stieg der Weg an und führte sie auf ein Felsplateau hinauf, auf dessen Grund, zwischen einigen Felsbrocken, nur ein einziger uralter Baum mit feuerroten Blättern wuchs.
Darunter erstreckten sich weite Berge und Hügel, hinter denen die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erglühen ließen. Edanna hielt an, der Augenblick war atemberaubend schön und dieser Ort erschien ihr als ein guter Platz um auszuruhen.
Erschöpft ließ sie ihr Gepäck zu Boden gleiten und hielt den Blick auf die aufgehende Sonne gerichtet.
Im Tal und an den Abhängen unter ihr erstreckte sich der Wald noch schier ins Unendliche weiter.
Es war seltsam, all die Jahre hatte sie geglaubt jeden Winkel, jeden Baum und jeden Fahrt zu kennen.
Nun lag vor ihr etwas Neues, Grenzenloses und Unbekanntes. Mit einem Mal kam sie sich sehr klein und noch einsamer vor.
Ein leichter Wind wehte um ihr Gesicht und spielte mit ihrem rotem Haar. Edanna schloss die Augen und ließ ihn alles mit sich fort nehmen.
Sie spürte einige Blätter und trat näher an den großen Baum heran.
Er wirkte ganz wie einer der alten Bäume, die ihr Stamm früher für Rituale und Feste benutzt hatte.
Die Frau legte beide Hände an die raue Rinde und spürte die Ruhe, die das Gewächs ausstrahlte.
War ihr Volk bereits bei ihm, konnte er ihre Nähe spüren?
Müde legte sie den Kopf dagegen und fühlte sich einen kurzen Moment sicherer und behütet, bis sie plötzlich das Knacken eines Astes hinter sich hörte.
Sofort war ihr ganzer Körper wieder in Alarmbereitschaft.
Waren die Ungeheuer zurückgekehrt?
Hastig suchte sie nach ihrem Bogen und richtete ihn auf den Waldrand.
"Wer ist da?", fragte sie.
In der Stille klang ihre Stimme kalt und fremdartig.
Nichts rührte sich. Einen Moment hielt Edanna inne und ließ den Bogen etwas sinken, bis sie erneut ein Knacken hörte und die Sehne wieder durchzog. Ihr Herz pochte hart gegen ihr Brustbein, doch sie versuchte ihre Atmung so ruhig wie möglich zu halten. Ein Raschen war hinter den Bäumen zu hören und wie aus dem nichts trat eine Kapuzengestalt mit erhobenen Händen aus dem Dickicht.
Die Wölfin zielte misstrauisch auf ihn und ließ ihn nicht aus den Augen.
Der Statur nach war der Kapuzenträger offenbar ein Mann, der scheinbar keine Waffen bei sich trug, also ließ die junge Frau den Bogen zögerlich wieder sinken.
Der Mann ächzte, genervt und erleichtert nahm er seine Kapuze ab.
Er war groß, drahtig und trug abgenutzte Kleidung, die Eda noch nie gesehen hatte. Seine Haut war gebräunt, so ganz anders als ihre blasse und seine lockiges schwarzes Haar hing ungezähmt über seine Schultern. Langsam ließ er seine Hände sinken und äußerte etwas in einer Sprache, die ihr ebenso unvertraut wie seine Erscheinung war. Nervös packte sie den Bogen wieder etwas fester und verfolgte mit dem Augen genauestens jeden seiner Schritte. Der Fremde schien ihre Unsicherheit zu spüren und hob seine Arme wieder ein Stück, seine Augen, braun wie die von Lias es gewesen waren, bohrend auf ihre gerichtet.
Sie hielt ihnen stand ohne zum ersten Mal in ihrem Leben genau zu wissen, wie sie reagieren sollte.
Ihre Hand begann zu zittern und verkrampfte sich fester um den geschwungenen Holzgriff.
Ihr Gegenüber begann leise auf sie einzureden und obwohl sie keines seiner Worte verstand, wirkten sie doch beruhigend und etwas in seinen Augen versprach ihr, dass er keine feindlichen Absichten hegte.
Langsam sank er auf die Knie und beugte den Kopf vor ihr.
Edas Anspannung löste sich, ließ den Bogen fallen und schloss einen Moment die Augen.
Vorsichtig stand der Mann wieder auf und nickte ihr leicht lächelnd zu wie einem Kind, das Fortschritte beim Laufen macht.
Mit der Hand deutete er auf sich selbst und meinte deutlich:" Cassandrino."
Verwirrt starrte sie ihn an.
Was wollte er ihr damit sagen, aber als er erneut auf sich zeigte und das Wort wiederholte, wurde ihr klar, dass es wohl sein Name sein musste.
Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung lächelte auch sie zaghaft, nickte und wies dann auf sich selbst.
"Edanna."
Cassandrino nickte und streckte seine Hand vor sich aus.
Eda griff zögernd danach und drückte sie leicht.

The story of the Dark KingdomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt