Prolog

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         Sie hielt ihre Augen geschlossen.

       Sie hatte vielleicht noch eine halbe Minute Zeit. In einer halben Minute würde sich ihr Leben entweder radikal verändern, oder sie würde wieder in die Traurigkeit zurück fallen, in der sie sich bereits die letzten Monate gewälzt hatte.

       Ein Strich.

       Zwei Striche.

       Sandra spürte, wie sich die Hand ihres Mannes in ihre legte. Sie sah ihn an. Tom’s ruhige Augen hielten sie fest. „Soll ich rauf schauen, oder machen wir’s zusammen?“

       Sandra lächelte. „Zusammen“, flüsterte sie. Sie hatte ein Gefühl. Heute sollte es sein.

       Heute werden es zwei Striche sein.

       Sie schielte vorsichtig neben sich auf den Tisch, um die Umrisse des Schwangerschaftstestes zu erkennen. Dann hielt sie ihn hoch.

       Tom nickte.

       Jetzt war es so weit. Sandra stellte sich schon die Gesichter ihrer Eltern vor. Ihre Mutter würde vermutlich vor Freude weinen, wenn sie…

       Ausdruckslos starrte sie auf das Ergebnis und spürte, wie sämtliches Blut aus ihren Gliedmaßen wich und einer eisigen Kälte Platz machte.

       Tom drückte ihre Hand.

       „War doch klar!“, stöhnte Sandra enttäuscht. Sie hämmerte den Test, mit dem einen Strich, vor sich auf den Tisch. Tom legte ein wenig besorgt seinen Arm um sie und streichelte ihre Schulter.

„Wie lange sollen wir noch warten? Noch mal fünf Monate?“ Sie legte ihre Stirn in ihre Hände und schüttelte den Kopf, während die Berührung ihres Mannes ihren Kummer etwas verfliegen ließ.

„Mach dir keine Gedanken, Engel, er wird das schon regeln.“, sprach Tom im ruhigem Ton, „Wir werden ein Kind bekommen, wenn er es für richtig hält. Und wenn es so weit ist, dann werden wir die besten Eltern sein, die man sich vorstellen kann“ Sandra hob ihren Kopf und lehnte ihn an Tom’s Schulter.

Bevor Sandra, bei einem Weihnachtsgottesdienst, Tom als Pfarrer Young kennen gelernt hatte, war sie zwar in der Kirche gewesen, an Gott hatte sie jedoch nicht wirklich geglaubt. Sie war in der Kirche gewesen, weil alle in der Kirche waren. Alle aus der Straße, alle aus ihrer Familie, alle ihre Freunde. Sandra ging zu Gottesdiensten und betete in schlimmen Zeiten. Sie redete sich ein, dass Gott ihr helfen würde, doch eigentlich wusste sie, dass es absurd war.

Wie kann jemand helfen, der nichts berühren kann, der mit niemandem reden kann und den noch nie jemand leibhaftig vor sich hatte stehen sehen?

Tom sprach jedoch über Gott, wie über einen normalen Menschen. Er sagte nie Dinge wie der Allmächtige oder der Vater aller Menschen – außer in seinen Gottesdiensten. Bei Tom war Gott einfach nur er.

Er, ein Mann, der den Menschen hilft, wenn sie Hilfe brauchen.

Das machte ihn für sie leibhaftiger, menschlicher.

Wahrscheinlicher.

Und seit sie Tom kannte, begann sie, ehrlich an ihre Gebete zu glauben. Sie wusste, er würde ihr helfen – irgendwann, wenn sie die Hilfe wirklich brauchte.

Jetzt wollte Sandra nicht weinen. Es war kein Grund zu weinen, denn es war kein endgültiges Ergebnis. Niemand sagte, sie würde niemals ein Kind haben können. Und solange das der Fall war, wusste sie, er hatte noch kein endgültiges Urteil über sie gesprochen.

Lunar - Augen, wie EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt