17. Mai

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Recherchen

Erik Lehnsherr

Ein ziehender Schmerz in meinem Magen riss mich unsanft aus dem Schlaf. Ich schaffte es gerade noch, mich zur Seite zu drehen, bevor mir mein Abendessen noch einmal hallo sagte. Scheiße, das musste doch irgendwann aufhören. Irgendwann konnte der Magen doch nichts mehr von sich geben, oder? Es hatte mitten in der Nacht angefangen. Ich war, zu meiner Verwunderung, in meinem Bett aufgewacht und fand einen Eimer neben diesem. 
Ich tippte darauf, dass ich irgendwie in das Bett gekrochen war, konnte es mir aber nicht vorstellen, nachdem mich ein Wärter am Abend zusammengetreten hatte. Egal wie, ich war dankbar für die weiche Matratze, da mein Rücken wieder brannte. So würde das auch noch einige Tage bleiben. Immerhin verheilten Peitschenhiebe nicht gerade schnell. 
Einen Würgereiz unterdrückend stemmte ich mich hoch und aus dem Bett. Ich ging zu dem kleinen Waschbecken neben der Toilette und wollte mir den Mund ausspülen, als Charles Stimme hinter mir erklang. 
„Das kannst du dir sparen. Das einzige Waschbecken, welches im Camp funktioniert, ist das in der Toilette der Wärter“, sagte er tonlos.
Mein erster Gedanken war: He er hat zwei Sätze ohne stottern geredet. Der zweite: Woher zum Teufel weiß er das und will ich diese Information überhaupt?
Schnaubend drehte ich mich zum Bett um, eine Bewegung bei der mein Magen ein weiteres Mal rebellierte und mich zu dem Eimer stürzen ließ. Hustend und würgend richtete ich mich wieder etwas auf und sah zu Charles, der mich durch die Stäbe des Bettes beobachtete. 
„Es liegt an den Drogen…wird jedes Mal schlimmer…irgendwann gibst du nach u…und benutzt deine Mutation f…freiwillig nicht m…mehr“, erklärte er, wobei er immer mehr ins Stocken und Stottern kam, je länger ich ihn ansah. 
Klar lag es an den Drogen, woran auch sonst?
„Was für Drogen sind das?“, wollte ich wissen. 
„Keine Ahnung…sie sind u…unter MS-Droge be…bekannt. Mehr wissen nur d…die Wärter und der Di…Direktor.“
Ich wandte meinen Blick von ihm ab, war mir doch mittlerweile klar dass ihn das nervös machte. 
„Die Zusammensetzung muss irgendwo festgehalten sein“, dachte ich laut.
„Im Aktenraum, neben der Wärter-Dusche.“ 
Jetzt wandte ich mich ihm doch wieder zu. 
„Woher wei…“
Die Frage blieb mir im Hals stecken, als ich Charles Gesichtsausdruck sah. Ich wusste sofort, dass er darüber nicht reden wollte und redete mir ein, dass es mir egal war. Die Wahrheit sah jedoch anders aus. Mit jedem Augenblick, den ich diesem jungen Mutanten verbrachte, zeigte mir, dass er mich eben nicht kalt ließ. Ich wusste nicht warum, aber nach den Beschimpfungen gestern Abend war in mir ein Beschützerinstinkt erwacht, den ich mit aller Macht versuchte zu unterdrücken. Immerhin wusste ich nichts über Charles, außer dass er mein Zellengenosse war und ich durfte mich nicht ablenken lassen. Ich wollte so schnell wie möglich einen Fluchtweg finden und diese Gefühle würden mir nur im Weg stehen. Warum zum Teufel reagierte ich so auf den Kleinen? Vielleicht weil er so eingeschüchtert war und sich allem unterwarf, das konnte ich so gar nicht leiden.
„Kannst du mich da hin bringen?“, hörte ich mich selbst fragen. 
Charles starrte mich mit offenem Mund an, als hätte ich hin gebeten sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Wahrscheinlich kam die Strafe für einen Einbruch in der Aktenkammer dem ziemlich nahe. Aber ich wollte herausfinden, was das für Drogen waren. Vielleicht konnte man ihre Wirkung ja verändern oder wenigstens schwächen. 
„Komm schon, Kleiner. Gehen dir die Wachen nicht auch auf die Nerven? Vielleicht finden wir ja einen Weg hier raus.“ 
…Moment! Hatte ich da gerade wir gesagt? Nein…nein, ich durfte nicht zulassen das er mir wichtig wurde. Aber vielleicht half er mir ja, wenn ich von wir redete. 
„D…du hast kei…keine Ahnung, was d…die m…mit uns machen, w…wenn sie u…uns er…erwischen!“, stotterte er.
Seine Stimme überschlug sich fast und Angst macht sich in seinen Augen breit. 
„Ich kann es mir vorstellen, aber ich will trotzdem wissen, was die in meinen Körper pumpen. Wenn du mir nicht hilfst, dann finde ich einen anderen, der sich hier auskennt. So einfach ist das“, erwiderte ich und hoffte, dass meine Taktik Wirkung zeigen würde. 
Charles kaute auf seiner Lippe. Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck und seinen Augen erkennen, dass er mit sich kämpfte. Ich erwartete schon, keine Antwort mehr zu bekommen, als er mich schüchtern ansah. 
„Du findest niemand, der sich in dem Gebäude der Wärter so auskennt wie ich“, flüsterte er und wandte auch gleich wieder den Blick ab. 
Die Art wie er es gesagt hatte, die Betonung, der leise Ekel in seiner Stimme, dass alles machte mich unglaublich wütend. Ich hatte es verdrängen wollen, aber eine Erkenntnis machte sich mir breit, die mich diesen ganzen Sauladen noch mehr hassen ließ. 
„Hör auf…bitte“, erklang erneut Charles Stimme und nun sah er mich flehend an. 
„Mit was?“, fragte ich verwirrt. 
Ich hatte doch nichts getan. 
„M…mich so anzusehen…i…ich ertrag das nicht. Du sch…schaust immer so m…mitleidig. Schon s…seit deinem zw…zweiten Tag hier…Das h…habe ich n…nicht verdient.“
Jetzt war es an mir die Augen aufzureißen. Was glaubte Charles, wer er war? Jeder Mutant in diesem Camp hatte Mitleid verdient, noch dazu wenn man von den Wärtern und Insassen so behandelt wurde, wie er. Mir war schon am dritten Tag klar gewesen, was die Wärter mit ihm taten, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Doch seit Mittwoch konnte ich die Augen davor nicht mehr verschließen. 

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