Weitere Tage sind vergangen. Tag um Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute. Alles ohne sie. Ich habe doch auch vorher ohne sie gelebt. Manchmal frage ich mich wie es sein kann, dass ein Mensch einen so sehr berührt, dass man nicht mehr ohne ihn oder sie sein kann. Man konnte es doch vorher auch. Ich kann es jedenfalls nicht mehr. Gerade liege ich wieder auf meinem Sofa und starre das entspannende weiß an. In meiner Hand halte ich eine 1a Flasche billig Weizen. Schmeckt wirklich widerlich das Zeug, aber die Wirkung tritt schneller ein und man benötigt weniger. Ziemlich perfekt, um mir nach der Arbeit den Kopf zu benebeln. Arbeit! Früher liebte ich meine Arbeit. Sie war alles und hielt mich bei der Stange. Mein fester Kundenstamm, die Kollegen, die Chefs, ich mochte alle. Ich mochte es, meine Touren zu fahren (ich arbeite bei einem Tiefkühlriesen im Direktverkauf-nur Privatkunden), ich war mit meinem Vorgesetzten befreundet. Ich hatte zumindest immer das Gefühl. Er war nett zu mir, wir machten Witze, wir waren wie Männer die sich verstehen, untereinander sind. „Bros before hoes!" Hatte Alina mal gesagt. Ich fand das zwar affig, aber so war sie. Sie hingegegen fand den Vorgesetzten affig und unsere „Freundschaft" auch.
Sie sagte immer, er sei nur solange mein Freund, wie ich alles bringe, was er verlangt, wenn das Kerngeschäft reibungslos lief. Ich glaubte ihr nicht, jetzt tue ich es. Sie hasste unseren Vorgesetzten, hatte sich ständig mit ihm in den Haaren. Man muss wissen, Alina war keine Frau die sich ungerecht behandeln ließ. Die sich generell etwas sagen ließ, dass sie für falsch oder unnötig empfand. Sie kämpfte. Und das tat sie derartig verbissen, dass selbst ich manchmal lieber woanders gewesen wäre. Unser Chef provozierte sie bis aufs Blut und sie explodierte und machte ihm die Hölle heiß. Ich dummer Idiot stellte mich leider immer auf seine Seite, unterstützte sie nie. Fand ihr Verhalten ungehörig. Ich hatte immer gedacht, man habe sich seinem Chef unterzuordnen. Einfach weil er Chef war. Sie bewies mir, dass es anders war. Ich wollte das ganze nie wahr haben. Erst jetzt wo sie weg ist verstehe ich es.
Die letzten Tage war ich arbeiten. Ganz am Anfang fasste mich jeder mit Samthandschuhen an. „Oh, da ist Sam. Bloß nicht ansprechen, bloß keine Witze machen oder lachen." Alle versuchten in meiner Gegenwart ernst zu bleiben. Mitfühlend eher nicht. Ich meine wir sind eine Gruppe von 35 Männern, Alina war die einzige Frau, da ist nicht viel mit Mitgefühl. Die Kunden hatten erstaunlicherweise auch von meinem Unfall und meinem Verlust gehört. Das Problem ist, meine Kunden sind vorwiegend weiblich und dementsprechend natürlich sehr einfühlsam. Jede wollte, dass ich alles erzähle, einen Kaffee trank und am besten weinte. Ich tat nichts davon. Ich blieb abweisend, ratterte meinen Text herunter und wem es nicht passte, ließ ich stehen. Man stelle sich vor, manch einer versuchte sogar mich anzumachen. Schließlich war ich jetzt wieder allein, ein Mann mit Tragödie. Manche Frauen stehen darauf. Ich finde meine Kunden gar nicht mehr so nett. Ab dem dritten Tag war meine Schonfrist vorbei. Im Lager lachten sie wieder über all die dummen Witze. Im Büro beachtete mich keiner mehr. Ist mir auch am liebsten. Und abends musste ich zum Chef. Bernd. Wir duzen uns. Ich muss gerade schmunzeln. Unglaublich, dass erste Mal nach ihrem Tod. Ich schmunzele, weil er ab jetzt sicher lieber auf ein Sie besteht. „Gerne, Sie Arsch!" Plötzlich bricht ein Lachen aus mir hervor. Ich lache laut und kehlig, ich lache bis mir der Bauch weh tut und ich mich auf dem Boden kugele. Die vier Katzen starren mich ungläubig an. Sorry Miezen, die Erinnerung an diesen und die folgenden Tagen macht mich irgendwie hysterisch.
Unser Firmenstandort ist mittelgroß für das Unternehmen. Wir sind jetzt noch 35 Männer. Aufgeteilt in drei Gruppen mit 12-12-11 Mitarbeitern. Jeder Gruppe steht ein Bezirksleiter vor, der sich um die Zahlen, Urlaub und andere Belange kümmert. Es gibt noch einen Geschäfts/Standortleiter. Der ist aber selten da, meist auf irgendwelchen Seminaren. Vielleicht auch zu Haus und spielt sich an den Eiern. Oder lässt sich an den Eiern spielen. Alina und ich waren in Gruppe 3, unser Bezirksleiter war Bernd. Meiner ist er noch, zumindest bis auf weiteres. Jeder Bezirk hat ein Büro. Am Kopf sitzt der Leiter mit seinem PC und all den tollen Daten über uns. Und an einem langen Tisch können wir unsere Abrechnung machen, morgens Kaffee trinken oder Quatschen. Bernd ist es wichtig uns emotional zu führen, dass ich nicht lache. Na gut, ich habe es selbst lange genug geglaubt, jetzt weiß ich es besser. Er will sich mit uns unterhalten, „einer von uns sein", da sein. So lange wir Leistung bringen ist es auch so. Es gibt verschiedene Gründe dafür, wenn man schlechter wird. Nicht immer ist man selbst Schuld daran. Das interessiert den emotionalen Bernd nicht. Stimmt die Leistung nicht, stimmt sein Geld nicht. Und dann kann der emotionale Bernd nicht mehr dreimal in den Urlaub fliegen oder irgendwas teures an seinem Haus machen lassen. Mir fällt auf, dass ich wie Alina klinge. Sie hatte wirklich mit allem Recht. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken, weil mir das gerade klar wird.
An diesem dritten Tag musste ich jedenfalls zu Bernd antreten. An unserem Tisch-„König Arthur und die Ritter der Tafelrunde" kommt es mir gerade- saßen zwei meiner Kollegen. Aber weil der gute Bernd so emotional führt, gibt es kaum 4-Augen-Gespräche. Ich stand vor seinem Tisch und er musterte mich böse: „Sam, ich weiß dass es schwer ist. Du hattest ja auch lange Zeit, ihren Tod zu verarbeiten. Jetzt bist du wieder hier und ich erwarte Vollgas. Du kannst doch keine Kundinnen, die dir ihr Beileid aussprechen abweisen und beschimpfen. Ich habe fünf Beschwerden aus den letzten zwei Tagen. Das ist zuviel!" Abwesend schüttelte ich den Kopf: „Bernd, lass mich mit so einem Mist in Ruhe. Ich habe anderes im Kopf. Sei froh, dass ich da bin. Meinetwegen stecke mich erstmal in den Telefondienst!". Verwundert stellte ich fest, dass Bernd amüsiert schien. Das reizte mich ungemein. Ich fragte ihn, was so witzig sei!? „Ach komm Sammy. Mal im Ernst. Wie lange hat das mit euch gedauert? 3-4 Monate? So schlimm kann es doch gar nicht sein. Außerdem war Alina doch ein ziemlicher Quälgeist. Hast du selbst manchmal gesagt!" Meine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Ich konnte es kaum glauben, was ich da hörte. So eine unfassbare Frechheit war mir nie untergekommen. Und das vom emotionalen Bernd. Der Mann der meinte, immer für uns da zu sein. Eine blinde Wut überkam mich. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist Bernd, der blutend und fluchend am Boden lag. Und ich, der festgehalten wurde von zwei Kollegen. Ich dachte mir, er habe es verdient. Dann wurde ich bewusstlos.
Das ganze hatte Konsequenzen für mich. Nichts was mich irgendwie berührt. Eine Abmahnung, ich darf bis auf weiteres nicht in den Kundenverkehr und habe Telefondienst. Das ist mir auch lieber. Ich möchte keinen Menschen direkt gegenüber stehen. Kurz muss ich noch einmal lachen, als in meiner Erinnerung das Bild vom blutenden, emotionalen Bernd aufflammt. Da kommt mir der Wunsch, ihm wäre das passiert, was Alina geschehen ist. Aber Arschlöcher wie er werden verschont. Engel wie Alina sind nicht mehr da.
Schnell die Decke ansehen. Ich nehme das Weiß in mich auf, es beruhigt. Ich werde müde. Meine Augen blinzeln, immer mehr. Ich wehe langsam davon.
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In deinen Schuhen-Für immer du!
RomanceAlina liebt Sam...aber eigentlich sollte es heißen Alina liebte Sam. Alina ist TOT. Und sie wird niemals zurück kehren und Sam wird sie nie wieder in den Armen halten, oder...?