Es ist heiß und ich schwitze. Mein Rücken tut weh und das Blut zirkuliert sehr laut durch meinen Körper. Es klingt in meinem Ohr ein wenig wie das Meeresrauschen in einer Muschel, nur mit einem zusätzlichen, leisen Piepen im Hintergrund. Es riecht nach Gras und selbiges piekst mich in meinem Nacken. Meine Augen sind geschlossen, aber es scheint sehr hell zu sein, denn ich sehe die Farbe Orange durch meinen geschlossenen Augen leuchten. Langsam versuche ich die Augen zu öffnen. Noch blendet alles und ich zwinkere wie verrückt. Was ist heute für ein Tag und wieviel Uhr haben wir gerade? Schwindel macht sich breit in meinem Kopf und ich blinzele wie wild mit den Augen, um mich an das Licht zu gewöhnen. Ich kann immer mehr die Welt um mich herum erkennen. Ich liege im Gras, hinter einem Gebüsch und die Sonne steht weit oben am Himmel. Es ist heiß, ich schätze mindestens 30 Grad und die Luft ist trocken. Ich richte mich auf. Mein Name ist Sam. Die Erinnerung kriecht schleichend empor. Ich blicke nach rechts und links und stelle fest, dass ich nicht weit von meinem zuhause bin. Das hier ist der Wald, fünf Minuten Fußweg von meiner Wohnung entfernt. Habe ich wieder zuviel getrunken, weil ich den Schmerz über Alina nicht aushalten konnte und bin dann weggetreten hier her gelangt. Meine linke Hand tastet Richtung Kopf. HALT! Alina? Jetzt trifft mich die Wahrheit wie eine Faust im Gesicht. Alina ist tot, der Unfall, die Trauer, Urlaub und die erneute Fahrt zu Harald. Dann das ungewöhnliche Gefühl, als ich an der Stelle vorbei kam, an der sie starb. Ich hab umgedreht, bin dort hin gefahren und ausgestiegen. Und dann fand ich ihren Schuh und als ich ihn berührte, landete ich plötzlich ohne Körper in dieser Art Zwischenwelt. Und jetzt bin ich zuhause? Bei mir? Das ist nicht möglich. Immer noch kratze ich meinen Kopf mit der linken Hand und genau jetzt wundere ich mich. Ich bin Rechtshänder, warum benutze ich die linke Hand. Meine Augen wandern zu meiner rechten Hand und da sehe ich ihren Schuh. Ich starre ihn an, genauso wie vorhin, als ich ihn entdeckte. Wobei es nicht vorhin gewesen sein kann, da war ich nahe Bayern und jetzt bin ich zuhause bei mir im Ruhrgebiet. Was ist denn nur passiert. Hier ergibt nichts einen Sinn. Da höre ich Stimmen. Ich ziehe mich weiter ins Gebüsch zurück, damit die Passanten mich nicht sehen können und hoffe dass sie schnell vorrüber ziehen. An den noch weit entfernten Stimmen erkenne ich, dass es sich um einen Mann, eine Frau und wahrscheinlich einen Hund handelt. Meine rechte Hand umklammert immer noch Alinas Stiefel. Als sich die Leute nähern, wird mir übel. Ich habe das Gefühl, jetzt erst recht durch zudrehen: Das ist eindeutig Alinas Stimme. Ich beobachte durch das Gebüsch, ich sehe die beiden immer näher kommen. Als sie fast auf meiner Höhe sind, kann ich ihre Gesichter erkennen. Meine Kehle schnürrt sich zu und kein Gramm Sauerstoff gelangt in meinen Körper. Mein Kopf bläst sich immer weiter auf, wie ein riesiger Ballon. Jetzt höre ich nicht nur das Meeresrauschen in meinem Körper, ich sehe auch Wellen des Zornes,der Verwirrung und der Verzweiflung auf mich zu rasen. Sie greifen mich und ziehen mich in ihren Todesstrom. Meine linke Faust balle ich im Gras zusammen und ohnmächtig nehme ich wahr, dass die Frau, die mich gerade passiert Alina ist und der Mann neben ihr bin ich. Wirklich, ich sehe sie und mich an mir vorbeilaufen. Ich zweifle. Ich zweifle an mir und meinem Leben, an meinem Verstand. Ich bin versucht aufzustehen und meinem Alter Ego dort auf dem Waldweg die Fresse zu polieren. Dann stecke ich Alina ein und fliehe mit ihr. Irgendetwas hält mich zurück und in meinem Kopf kraucht aus den hintersten Ecken Alina Stimme hervor und sagt: „Materie und Antimaterie löschen sich gegenseitig aus, vergiss das nie wenn du weiter gehst. Sie dürfen sich nicht berühren. Denk immer daran. Alles andere ist Schicksal. Und du wirst mich finden!" Die Mühlen mahlen langsam, aber stetig. Ich kann mich nicht selbst schlagen, wollte sie mir damit sagen. Ich darf mir nicht selbst begegnen. Dann bringe ich etwas durcheinander, vielleicht zerstöre ich auch etwas. Ich entscheide in meiner sicheren Deckung zu bleiben, bis Alina und ich über alle Berge sind.
Ich nutze die Gelegenheit, um sie genauer zu betrachten. Erst jetzt fällt mir auf, dass Alina eine andere Haarfarbe hat und ihre Haare etwas länger trägt. Sie und ich lachen laut und führen tatsächlich einen Hund Gassi. Auch ich sehe nicht genauso aus, wie im Moment. Ich bin dicker und habe lange Haare, bis zur Schulter. Das sieht wirklich urkomisch aus. Alina und ich halten kein Händchen und haben einen gewissen Abstand zwischen uns, wir lachen zwar, aber wir wirken nicht, als seien wir ein Paar. Dieses Szenario hier maßt sich wirklich an, die Realität zu sein. Aber es kann doch nicht die Realität sein, ich kann nicht mit Alina da entlang laufen, denn ich bin in Bayern und Alina ist tot. Dieser Gedanke lässt den Schmerz der vergangenen Monate sehr präsent werden. Gleichzeitig arbeiten meine grauen Zellen. Was passiert hier gerade. Die anscheinend lebende Alina und der dicke Langhaar-Sam sind mittlerweile ausser Sichtweite. Es ist besser so, ich verspürte den seltsamen Drang mich ihnen zu nähern und mein Gefühl sagt mir, das wäre nicht gut ausgegangen. Was soll ich jetzt tun? Zuerst aufstehen. Immer noch halte ich ihren Stiefel fest umklammert und bin auch nicht gewillt, ihn los zu lassen.
Mittlerweile ist eine Stunde vergangen und ich stehe immer noch im Wald, nahe meiner Wohnung. Ich kann kaum atmen, immer noch nicht. Ich versuche zu begreifen, was hier gerade geschieht.Wieso stehe ich hier und wie kann ich mich selbst sehen? Und sie...? Zugegebenermaßen sehen sie und ich etwas anders aus, als wir es eigentlich tun. Oder sehen wir so aus, wie ich vor circa einer Stunde gesehen habe? Aber wer oder noch besser was bin ich dann? Existiere ich oder werde ich verrückt? Aber wenn verrückt werden bedeutet, dass sie lebt, dann werde ich gerne verrückt. Ich halte immer noch ihren Stiefel in der Hand. Ich kann ihn einfach nicht los lassen, kann nicht einmal sagen warum das so ist. Mein Atem beschleunigt sich erneut, mein Puls pocht bedrohlich an meiner Schläfe und ich habe das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Schon wieder. Bestimmt das hundertste Mal in der letzten Stunde. Ich atme die Panikattacke konzentriert weg und ich fange mich.
Irgendetwas muss ich tun. Ich kann doch nicht für immer hier stehen. Ich will zu ihr. Ich will zu Alina. Wenn sie lebt, kann sie mir vielleicht sagen, was hier los ist. Sie hat doch auch in dieser Zwischenwelt, in der ich mich befand, mit mir gesprochen. Ja das ist es. Sie weiß ganz bestimmt was los ist. Ich setze mich also in Bewegung in Richtung meiner Wohnung. Als ich auf den Gang einbiegen will, der zu meiner Tür führt, sehe ich, dass sich diese öffnet. Ich bleibe abrupt stehen und weiß nicht einmal warum. Mein Atem spielt ein weiteres mal verrückt und ehe ich sehe, wer aus der Tür tritt, weiß ich wer es ist. Ich weiß es sogar ganz genau. Ich kann es fühlen, denn ihre Gegenwart ist so präsent für mich und so wichtig, so lebenswichtig, dass mir schlagartig das Blut in den Adern gefriert. Ich stehe wie versteinert da, starre die Tür an, alles bewegt sich in Zeitlupe. Alles in mir und um mich herum ist zum stillstand gekommen. Und plötzlich verlässt Alina das Haus und bewegt sich geradewegs auf mich zu. Sie hat mich allerdings immer noch nicht gesehen, denn sie wühlt geistesabwesend in ihrer Tasche und sucht ganz offensichtlich nach etwas. Was soll ich jetzt tun? "Kann sie mich überhaupt sehen?", schießt mir schlagratig ein Gedanke durch den Kopf. Doch noch bevor ich oder irgendwer anderes diese Frage beantworten kann, blickt sie auf. Jäh bleibt sie stehen, sie sieht ungläubig aus. Fast meine ich, dass sich auf ihrem Gesicht ein großes Fragezeichen bildet. Sie will etwas sagen, aber ihr süsser Mund scheint nicht imstande Worte bilden zu können. Sie versucht es erneut, aber es kommt nur ein lustiges "S...äääähhh?" heraus. Der Klang ihrer Stimme, auch wenn es nur dieser halbgesprochene Laut ist, überzieht meinen Körper mit einer meterdicken Gänsehaut. Ich gehe einen Schritt auf Alina zu. Erneut ein Laut von ihr: "Äääh..äääh...!", los mein Engel versuche es weiter, denn auch meine Lippen formen keine Worte...:"Sam?" Sie hat es gesagt, sie hat meinen Namen laut ausgesprochen. Eine tonnenschwere Last fällt von meinen Schlultern. "Alina!", bringe nun auch ich hervor. All meine Vernunft verlässt mich und ich will sie nur noch in den Armen halten.Ich bereite diese aus und will sie greifen, in diesem Moment lasse ich den Schuh los. Das war ein Fehler. In diesem Moment kann ich nicht sagen warum, aber es war ein riesengroßer Fehler, denn ich sehe noch wie der Schuh zu Boden fällt, höre das Geräusch des Aufpralls und schaue wieder zu Alina hoch. Aber ich kann sie nicht mehr sehen, ich sehe nur noch schwarz. Schwarz, Schwarz, Schwarz! Dann verliere ich das Bewusstsein.
DU LIEST GERADE
In deinen Schuhen-Für immer du!
RomantizmAlina liebt Sam...aber eigentlich sollte es heißen Alina liebte Sam. Alina ist TOT. Und sie wird niemals zurück kehren und Sam wird sie nie wieder in den Armen halten, oder...?