Die Fahrt

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Alinas Unfall ist einige Monate her. Ich habe irgendwie ins Leben zurück gefunden. Oberflächlich. Auf der Arbeit leiste ich das, was man von mir verlangt. Ich halte Smalltalk mit Kollegen und ich lache auch ab und zu. Im Privatleben gehe ich meinen Verpflichtungen nach. Ich treffe Freunde, mache Einkäufe, bin für andere da. Auch hier lache ich ab und zu. Ich besuche auch öfter andere Menschen und verbringe ganze Abende mit ihnen, Spieleabende. Nur mich soll niemand besuchen. Würde das jemand tun, würde er sehen, dass ich überhaupt nicht zurück im Leben bin. Mittlerweile trinke ich weniger und heimlich. Aber ich trinke. Und meine Wohnung trägt Zeugnis davon. Überall leere Flaschen Korn, Wein, Vodka. Alles was ich bekommen konnte. Es ist nicht sehr aufgeräumt und hauptsächlich liege ich, wenn ich alleine zu Haus bin, auf der Couch und starre mein geliebtes Weiß an. Dieses Weiß bringt wirklich eine Konstante in mein Leben. Man kann sogar sagen, dass ich mich darauf freue, wenn ich von der Arbeit komme. Ich liege da und sauge es in mich auf. Verrückt ist das! Ich fühle mich durch das Weiß Alina näher. Ich kann das nicht erklären, aber manchmal zeichnet meine Decke ihr Gesicht und dann fühle ich mich kurz richtig gut. Als sei sie gar nicht weg.

Ansonsten ist meine Wohnung wirklich sehr dreckig und zugemüllt. Nach einigen Wochen dieser Verwahrlosung bekam ich allerdings ein schlechtes Gewissen, wegen der vier Katzen. Alina hätte nie gewollt, dass sie so hausen müssen. Also fuhr ich zum Baumark und kaufte Farbe für die Wand-ich hatte schon immer ein Zimmer nur für die Katzen. Ich bestellte Sperrmüll und entsorgte die alten Möbel. Ich verlegte neuen Teppich. Im Internet besorgte ich zwei Katzenbäume , neue Katzentoiletten und jede Menge Spielzeug. Ich wirbelte sicher zwei Wochen an diesem Raum. Irgendwann war er fertig und ich hatte ein Katzenparadies geschaffen. Diesen Raum halte ich immer sauber. Ich sorge für frisches Wasser, Futter und saubere Toiletten. Ab und zu, wenn ich nicht die Decke bewundere, beobachte ich die Tiere und muss lächeln. Sie bringen mich dazu Alina zu hören, wie sie zu ihnen spricht. Liebevoll und zärtlich.So war sie immer zu den Tieren.

Heute bin ich ein bisschen ängstlich. Sonst fühle ich mich nur von Schuld zerfressen und unsagbar traurig. Heute ist noch Angst dabei. Ich habe Urlaub. Es ist der erste Tag und ich weiß nicht, wie ich meine Tage füllen soll, wenn ich den ganzen Tag frei habe. Harald hat sich bei mir gemeldet und mich fast angebettelt ihn besuchen zu kommen. Ich soll diese Strecke erneut fahren? Alleine. Mir dreht sich der Magen bei dem Gedanken daran und ich schwitze.Ich weine. Trotzdem habe ich Harald zugesagt. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Wahrscheinlich, weil ich noch nie gut im Nein sagen war. In wenigen Stunden geht es los. Meine Mutter wird auf die Katzen aufpassen, deswegen bin ich gerade dabei den Schein zu erwecken, ordentlich und wie ein normaler Mensch zu leben. Säcke voller leerer Flaschen stehen an meiner Tür. Die bringe ich gleich zum Altglas. Der Sauger läuft und verschlingt Monate von Staub, Katzenhaaren und Menschenschuppen. Jäh kommt mir in den Sinn, ob auch noch Alinas Hautschuppen in meiner Wohnung sind bzw jetzt waren. Kurz bin ich versucht den Sauger zu stoppen, dann wird mir klar, auch ein paar Hautschuppen bringen sie mir nicht zurück. Also fahre ich fort mit meinem Reinigungritual. Und irgendwie bin ich doch froh, dass es mich von der bevorstehenden Reise ablenkt. Ich schaue auf mein Handy. In vier Stunden will ich spätestens los. Dann ist es 22:00 Uhr. Ich will im Dunkel fahren. Dann sehe ich weniger von der Strecke und hoffe, dass ich schnell an der Unglücksstelle vorbei komme. Klar, ich werde sie erst auf dem Rückweg passieren. Aber selbst in großer Entfernung und auf der Gegenüberliegenden Seite an ihr vorbeizukommen, bereitet mir Unwohlsein.

Wir haben Juli und draußen ist es angenehm warm. Den ganzen Tag hat die Sonne geschienen und selbst jetzt kann man sich problemlos im T-Shirt draußen bewegen. Ich bin seit einigen Stunden unterwegs. Anfangs hatte ich das Radio laufen, aber anstatt mich zu beruhigen, machte es mich nur nervöser. Es war als liefe eine Radiosendung nur für Alina. „Alinas Top100-alle Hits, die sie vor ihren Tod gerne gehört hatte! Schalten sie ein!" Also ist das Radio still und ich lausche dem monotonen Geräusch der Räder auf dem aufgeheizten Asphalt. Es macht mich ein wenig schläfrig. Ich habe genug Kaffee dabei. Nach einer Pause war mir bisher nicht und vor Sekundenschlaf habe ich keine Angst. Vielleicht komme ich ja dadurch zu ihr und weg von meinem inneren Schmerz. Lieber im Sekundenschlaf in die Leitplanke rasen, als anhalten müssen. Ich trete das Gaspedal durch. 200 Stundenkilometer. Fast bin ich so stolz auf mein Auto, wie ich es früher gewesen wäre.

Eigentlich lüge ich mich nur an. Ich weiß, dass die Stelle gleich kommt. Auf der anderen Seite, aber sie kommt. Unaufhörlich nähere ich mich. Ich merke, wie meine Hände schwitzig werden. Und das obwohl die Klimaanlage mir luftige 16 Grad entgegenweht. Mein Atem wird schwerer, ich höre meinen Herschlag. Tok Tok Tok Tok! Näher immer näher. Meine Kehle schnürrt sich zu. Ich versuche das Gaspedal noch mehr durchzutreten, um schneller vorbei zu kommen. Es gelingt mir nicht. Ich bin wirklich froh, dass niemand hinter mir ist. Ich bin ganz alleine auf dieser Autobahn.Niemand kann meine Angst und Panik sehen.

Es sind nur noch wenige Meter. Gleich habe ich es geschafft. In meinem Kopf hat sich diese Stelle eingeprägt. Schnell,schnell vorbei. Ich bin jetzt fast auf der Höhe des Unfallortes. Es ist als könne ich gar nicht mehr atmen. Doch plötzlich verlangsamt sich alles um mich herum. Es ist wie in Zeitlupe. Ein ganz ungewöhnliches Gefühl überkommt mich. Etwas hält mich, zerrt und zieht an mir. Wenige hundert Meter vor der Stelle ist eine Ausfahrt. Ich gehe in die Vollbremsung. Trete die Bremse durch. Das „warme Asphalt-Gummi Gemisch" gibt laute quietschende Geräusche von sich. Mein Wagen schliddert und gerade so kann ich die Ausfahrt nehmen. Mein Atem geht immer noch schwer und in meinem Kopf hämmert es schmerzhaft. „Umdrehen, umdrehen, umdrehen!"

Wenn ich die Auffahrt in die andere Richtung nehme, komme ich an der Unfallstelle vorbei. Sie ist etwas versetzt. Es ist 02:30 Uhr. Ich weiß selber nicht warum ich das will. Aber ich will es. „Umdrehen!" schreit es in meinem Kopf. Ich höre mich zurück schreien: „ich bin dabei, verdammt, ich bin doch dabei!" Soweit ist es also mit mir schon gekommen. Unfassbar!

In deinen Schuhen-Für immer du!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt