Ausnahmsweise war das Frühstück ruhig verlaufen. Herr Müller war so begeistert von seinem Zeitungsbericht gewesen, dass er Charda keine Beachtung schenkte. Er wurde weder handgreiflich noch beleidigte er Charda, er ließ sie sogar den Kaffee nachschenken ohne ihr auf den Hintern zu greifen.
Normalerweise war Charda den Großteil des Tages mit Herrn Müller alleine. Frau Müller musste immer ins Büro und der Sohn in die Schule, doch Herr Müller war freier Journalist und somit arbeitete er zumeist von zuhause aus. Doch dieser Tag schien eine angenehme Wendung für Charda zu bekommen. Am Frühstückstisch erhielt Herr Müller einen Anruf, dass er aufgrund seines grandiosen Artikels in die Redaktion kommen solle. Herr Müller war sichtlich erfreut und obwohl sich Charda nichts anmerken ließ, war ihre Freude vermutlich drei mal so groß. Endlich hatte sie Zeit für sich. Einen ganzen Vormittag lange stand sie nicht unter der strengen Beobachtung der eisblauen Augen. Einen ganzen Vormittag lang keine schmutzigen Witze auf ihre Kosten, keine anzüglichen Berührungen und keine Schläge. Charda konnte sich zwar nicht ausruhen, da sie viel zu tun hatte, aber alleine die Ruhe die im Haus herrschte war wie Urlaub für sie.
Herr Müller kam gegen Mittag nach Hause. Er wirkte nervös und seine blauen Augen glitzerten aufgeregt: "Charda! Ich bin hungrig."
Charda lief sofort in die Küche um ihrem Peiniger ein Brot zu schmieren. Charda wusste, dass Herrn Müller etwas Gutes passiert sein musste, denn es lag keine Beschimpfung in seinem Befehl. Normalerweise fügte er an jeden Satz den er mit ihr sprach ein Miststück oder Schlampe hinzu.
Auch der restliche Tag verlief ruhig für Charda. Herr Müller verkroch sich in sein Büro und Charda konnte in Ruhe ihre Aufgaben erledigen. Sie sah Herrn Müller erst beim Abendessen wieder, als die ganze Familie am Tisch saß.
"Charda, hol Champagner!", befahl er ihr.
Ohne zu zögern lief Charda in den Keller und holte eine gekühlte Flasche guten Champagner. Es muss irgendetwas zu feiern geben, stellte Charda fest, während sie die Gläser und die Flasche auf einem Silbertablett aragnierte.
Herr Müller bevorzugte es, die Flasche selbst zu öffnen und der Korken schoss mit einem aufgeregten Ploppen durch den Raum.
"Wie ihr vermutlich schon bemerkt habt, haben wir etwas zu feiern. Ich wurde heute in die Redaktion beordert, weil mein Bericht zu den Hinrichtungen so gut war", erklärte der blonde Mann während er seiner Frau und ihm ein schenkte.
"Das ist wunderbar mein Schatz, jedoch nicht verwunderlich", meinte seine Frau mit einem anerkennenden Lächeln.
"Danke, aber das ist auch nicht der Grund für den Champagner. Mein Chef war so begeistert von meinem Bericht, dass er mich für die nächste Woche in Berlin haben will."
"Berlin? Das ist ja großartig. Aber warum Berlin?"
"Wie ihr wisst, ist eines der größten Arbeitslager in Berlin, und mein Chef möchte, dass ich eine einwöchige Kolumne über das Lager schreibe. Es geht um das einjährige Bestehen dieses enormen Komplexes und ich soll eine einwöchige Dienstreise machen um diese Institution auf allen Ebenen zu beleuchten."
"Oh, mein Schatz, das ist tatsächlich grandios!"
"Das ist noch nicht alles. Mein Chef hat mir ebenfalls erlaubt euch mitzunehmen und meine Freizeit mit euch zu verbringen. Er meinte, es wäre eine gute Gelegenheit um ein paar Museen zu besuchen und unsere Familie zu stärken."
"Wow! Das ist toll, Vater. Aber ich habe doch Schule."
"Es wird kein Problem sein dich aus der Schule zu nehmen. Wir werden uns in Berlin doch ebenfalls fortbilden und wir werden die Gelegenheit haben, etwas über das Deutsche Reich zu lernen. Berlin ist die größte Stadt des Deutschen Reiches, deine Lehrer werden bestimmt nichts dagegen haben. Und deine Angelobung ist erst in einem Monat, deshalb wirst du auch diese nicht verpassen, mein Schatz."
Liebevoll lächelte Frau Müller ihren Mann an: "Das ist großartig, mein Schatz. Wir alle haben uns diesen Ausflug rätlich verdient. Wann geht es los?"
"Übermorgen werden wir aufbrechen. Mit dem Staatssekretariat wurde bereits alles geklärt und sie können dich für eine Woche entbehren."
Klirrend stießen die Gläser zusammen und Freude lag in der Luft. Auch Charda empfand Freude, denn sie würde nicht mitkommen. Sie durfte noch nie zu einem Ausflug mitkommen, und dies bedeutete eine Woche Ruhe für sie.
Nachdem Charda den Tisch abgeräumt hatte, rief ihr Peiniger sie ins Wohnzimmer.
"Charda, du wirst nicht mit uns kommen. Meine Familie wird einen schönen Urlaub erleben und du wirst ihn uns nicht ruinieren. Du bleibst hier und wirst gefällig auf das Haus aufpassen. Wenn du irgendeinen Blödsinn anstellt, werde ich dich persönlich umbringen. Ich hoffe, ich habe meinen Standpunkt klar gemacht."
Charda nickte und zog sich zurück. Ihre Vermutung wurde bestätigt und sie fühlte etwas Ähnliches wie Glück.
Nach dem sie alle ihre Aufgaben erledigt hatte, ging sie das erste mal seit Jahren mit einem Lächeln im Gesicht schlafen. Schön übermorgen hätte sie eine Woche Ruhe und sie hatte eine Woche Zeit um einen Fluchtplan zu entwickeln.
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2038: Wenn Die Welt Untergeht
Science Fiction2038: Österreich und Deutschland haben sich wieder vereinigt. Der dritte Weltkrieg ist ausgebrochen und Sklaverei und öffentliche Hinrichtungen stehen an der Tagesordnung. Der neue Führer und seine Armee wollen diesen Krieg für sich entscheiden und...