Und natürlich gibt es auch Tage, an denen ich bereue. An denen ich mich frage, wozu ich das überhaupt getan habe. Wozu da so viele Narben auf meinen Armen sind. Aber dann erinnere ich mich. Weil ich noch vor wenigen Wochen ein Mensch war, der nicht einmal auf sich selbst aufpassen konnte. Und dass ich an jedem Morgen aufwachen, und plötzlich wieder dieser Mensch sein könnte; der sich die Arme mit einer Rasierklinge aufschneidet. Da ist eine unsichtbare Grenze. Und wenn dann wieder eine Synapse in meinem Gehirn durchbrennt, und ich plötzlich den Rückhalt verliere, renne ich los; Richtung der vermeintlichen Freiheit. Und dann überrenne ich sie, diese Grenze.
'Aber wenn man erst einmal eine Rasierklinge in seinem Arm stecken hat, dann kriegt man sie nicht mehr so leicht raus.'
-Lilly Lindner-
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Wenn ich länger darüber nachdenke bin ich an allem Schuld. Meine Mutter sieht so glücklich aus auf all diesen alten Fotos aus, so voller Vorfreude auf die Zukunft und all die schönen nächsten Tage. Sie wollte ein Kind. Ein glückliches, hübsches, normales Kind, dass immer fröhlich ist, eine fröhliche Familie. Aber dann hat sie mich bekommen. Ich habe schon im Kindergarten nie mit anderen Kindern gespielt, weil ich da irgendwie eine unüberwindbare Grenze zwischen mir und ihnen gesehen habe. Ständig habe ich das Haus unordentlich gemacht und alles überall liegen lassen. Eine Zeit lang habe ich mir sogar die Haare abgeschnitten und Jungsklamotten getragen. Sie muss sich für mich geschämt haben. Sie war oft wütend und hat wieder angefangen zu rauchen, sie hat den Kopf in die Hände gestützt am Küchentisch gesessen, Messer durch die Wohnung geworfen und einmal hat sie mir eine geklatscht. Weil sie mit mir nicht klargekommen ist, weil ich sie unglücklich gemacht habe. Dann hatte ihre Mutter einen Schlaganfall und musste in betreutes Wohnen. Und im Winter hat mein Vater sie verlassen, für eine 24-jährige. Anstatt ihr zu helfen, habe ich nur ohnmächtig und lethargisch in meinem Bett gelegen und bin depressiv geworden. Ich bin in den nächsten Drogeriemarkt spaziert, hab mir Rasierklingen gekauft und damit begonnen, mir die Arme aufzuschneiden. Ein paar Monate später hat dann mein Klassenlehrer bei uns angerufen, weil er sich Sorgen um mich gemacht hat. Also musste sie mit mir zu einem Psychologen gehen, weil sie ein guter Mensch ist, und mir helfen wollte. Aber die Psychologin war so furchtbar, dass ich mich geweigert habe, hinzugehen. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihr Leben wieder in Ordnung bringen kann. Nachdem ich es kaputt gemacht habe. Gesund werden kann ich nicht, so sehr ich es auch versuche, bleibe ich ein trauriger Mensch. Und wenn ich mich weiter so verhalte, tue ich ihr weiter weh. Wenn ich ein paar zu viele von den Paracetamol, noch ein paar Antidepressiva und welche von den Lyrica schlucke und noch drei Scheiben Toastbrot dazu esse, um nicht alles wieder auszukotzen, dann tue ich ihr noch mehr weh. Da ist so, als würde ich versuchen, über Wasser zu laufen, ohne abzutauchen. So viel was man falsch machen kann, wenn man nicht alles richtig macht.
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Über die Farben meines Lebens
Poetry"Auch ein Vogel muss eines Tages landen" - Mädchen, das dieses Buch schreibt Einblicke in ein etwas andere Welt. Ein paar Schreibexperimente. BEENDET / AGESCHLOSSEN / ENDE / AUS