Narben der Seele

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Kurz nach Mitternacht floh eine Person durch den dunklen Wald und suchte mit dem Mut der Verzweiflung zu entkommen.
Jeder ihrer gehetzen Schritte durch die beklemmende Finsternis brachte sie der Geisterstunde näher.
Nur mühsam hielt sie sich die Dunkelhaarige noch aufrecht. Trotz der Erschöpfung, die sich in ihrem Gesicht spiegelte, jagte sie mit großen Sätzen vorraus, stürmte um Haaresbreite an den Bäumen vorbei und über den Waldboden, der in ihren Augen nur noch einem verschwommenen braunen Fetzen glich.
In der Luft über ihr ragten Äste wie dürre Finger in Richtung Himmelszelt, lauerten dem Augenblick entgegen, in dem die junge Frau ganz und gar ihnen gehören sollte.
Bittere Tränen rannten über ihr verdrecktes Gesicht, längst atmete sie nur noch abgehackt, aber sie hatte keine Wahl, musste doch in Bewegung bleiben.
Wieso? Warum tust du mir das an?! stumm hallte der verzweifelte Ausruf in ihren Gedanken wieder ehe ein Summen ihre Ohren erfüllte, ein tiefes Bienenschwarmsummen, dass sich allmählich veränderte und zu einem dumpfen Pochen wurde, das ihren Kopf beschwerte und ihre Gedanken lähmte.
Sie wusste er konnte sie nicht vergessen, sie hatte gewusst, dass er sie, eine bereits tote Frau, nicht sterben lassen konnte.
Blind vor Liebe war sie ihm dennoch auf Schritt und Tritt gefolgt.
Doch im finalen Kampf wurde Kikyous Körper von den Tentakeln ihres Feindes durchbohrt und mit Miasma vollgepumpt. Diesem Ausmaß an Zerstörung, die in diesen hinterhältigen Angriff gelegt wurde,
konnte ein lebloser Körper aus Graberde und Knochen nicht standhalten. So starb seine erste und letzte Liebe und riss ihn mit sich ins Jenseits.
Mit einem Aufkeuchen beschleunigte sie erneut ihre Schritte.
Ja, er war für immer von ihr gegangen, hatte sich gegen das Leben entschieden.
Und mit ihm ging auch die leiseste Hoffnung, dass er ihre Gefühle auch nur ansatzweise verstehen oder gar erwiedern könnte.
Sie durchbrach das dichte Gestrüpp zweier Büsche und rannte verbissen weiter.
Dann entdeckte sie plötzlich eine Art Höhle in einem gewaltigen alten Baum, einen schattigen Abgrund, gerade groß genug um sie aufzunehmen.
Im Näherkommen sah sie, dass der Baum einen mächtigeren Stamm hatte als alle anderen umliegenden Bäume .
Eine hell leuchtende Krone zierte sein Haupt.
Sie schleuderte ihren Rucksack in die Aushöhlung, kletterte hinterher und zerrte Äste voller Beeren vor die Höhle um sich zu tarnen.
Jeder Muskel ihres Körpers begann sich zögerlich zu entspannen und eine betäubende Kälte breitete sich in ihrem Inneren aus und setzte sich in ihrem Herzen fest.
Erschöpft sank die junge Frau in einen tiefen Schlaf und blieb reglos liegen.
Ringsumher wuchs und gedieh der Wald und wiegte den altehrwürdigen Baum mit seiner Höhle in blättrigen Armen.

~

Sanft erwachte sie aus ihrem Schlaf, als ein neuer Morgen dämmerte.
Erste Sonnenstrahlen strömten durch das rauschende Blätterdach und warfen kleine Lichtsprenkel auf ihre Haut, die lautlos tanzten.
Zusammengerollt lag sie im ausgehöhlten Stamm eines uralten Baumes. Fröstelnd streckte sie eine steife, kalte Hand aus und drückte ein Gewirr aus Zweigen und Dornengestrüpp beiseite, dass sie vor dem Rest des Waldes verbarg.
Eine dunkle Masse überkrustete ihre Handflächen. Dünne Schnittwunden und  Kratzer verästelten sich in ihrer Haut und bildeten ein wirres Geflecht aus getrocknetem Blut.
Sie ballte die Hände zu schwachen Fäusten, als ihr Verstand plötzlich raste, wie im Zeitraffer sich erinnerte ; sie sah InuYasha, wie er ihren Feind zu treffen versuchte, es jedoch nicht einmal durch seinen Bannkreise schaffte, weil er seiner alten Liebe hinterherhechtete um sie zu schützen. Kikyou selbst, wie sie dem äußeren Bannkreis mit Hilfe ihrer heiligen Pfeile zerstörte und Sesshomaru, wie er mit Sou'unga eine unglaubliche Schneise in die Reihe von Narakus Abkömmlingen riss und ihnen das Vorrankommen ermögliche.
Ein Bild von Sango tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, wie sie Dutzenden Dämonen mit ihrem Hiraikotsu den Garaus machte, Miroku den Mönch, der der Taijia half, indem er mit dem Windloch in seiner rechten Hand die vordere Reihe ihrer Angreifer mitsamt den Saimjoshouu, Narakus Giftinsekten, einsog.
Dann sah Kagome sich selbst, wie sie Sesshomaru vor einem Tentakelangriff bewahrte und mit ihrem mit Hass getränkten heiligen Pfeil die Bannkreise ihres wohl mächtigsten Feindes zerbrach, um anschließend mit ansehen zu müssen, wie ihr geliebter InuYasha sich vor Kikyou warf und seine Arme schützend um sie schlang, um gemeinsam mit ihr in den Tod zu gehen. Gleichzeitig versetzte der Lord des Westens Naraku den entgültigen Todesstoß, während sie selbst Sou'ungas Attacke mit ihren Pfeilen verstärkte und das verdreckte Shikon no Tama reinigte.
Daraufhin kehrte das Juwel der vier Seelen in ihre Brust zurück und verschmolz mit ihrem Körper.
Sie sah das Ausmaß der Zerstörung, dass Naraku hinterlassen hatte. Sah wie die Shinidamachuu, Kikyous Seelenfänger, die Miko und den Hanyo umgaben um ihre Seelen auf ihrem letzten Weg ins Reich der Toten zu begleiteten. Kagome sah sich selbst, wie sie unter dem gewaltigen Druck ihrer tobenden Gefühle zusammenbrach, ehe sie sich mühsam wieder aufrappelte, um die Vergiftung des Mönches zu heilen.
Das Kazaana in seiner Hand war verschwunden, Narakus Fluch aufgehoben.
Sie konnte beinahe erneut spüren, wie sie sich fiebrig die Haare raufte und krampfhaft gegen das Gefühl der Verzweiflung ankämpfte, während sich ein dicker Knoten in ihrer Brust bildete, der sich beim Anblick von InuYashas leblosen Körper schmerzhaft zusammenzog.
Ein letzter Blick zu dem Mönch und der Dämonenjägerin, die sich erschöpft in den Armen lagen, dann rannte sie los.
Entsetzt öffnete sie ihre Augen und entriss sich dieser schmerzhaften Erinnerung, die sie für immer stumm bei sich tragen würde.
Jetzt als frische Wunde, später als silbrige Narbe ihrer Seele.
Ein unterdrücktes Schluchzen ertönte, als sie begriff, dass sie allein war. Miroku hatte Sango, Sango hatte Kirara und Shippou ging seit ein paar Monaten seinen eigenen Weg.
InuYasha war tot.
Zitternd umschlag sie mit den zerkratzen Armen ihre wunden Knie.
Allein.
Ein Wort, dass nur der Hälfte der Wahrheit entsprach, denn sie hatte noch Souta, ihre Mutter und ihren Opa in der Gegenwart.
Doch hier in der Vergangenheit war sie auf sich selbst gestellt.
Wenn ich es durch den Wald bis zum kochenfressenden Brunnen schaffe, dann...
Was dann? Würde sie in ihre Zeit zurückkehren und ihr Leben weiterleben als wenn nichts geschehen ist?
Eins stand fest, vergessen konnte sie nicht.
Ihr knurrender Magen holte sie zurück in das hier und jetzt.
Kagome schnitt eine Grimasse, zog sich aus der Höhlung und wankte steifbeinig zwei Schritte vorwärts.
Das Kribbeln in ihren Füßen verriet ihr, dass sie lange so zusammengekauert gelegen haben muss.
Aufmerksam blickte sie sich um; eine unnatürliche Stille herrschte im Wald.
Am merkwürdigsten allerdings erschien ihr der Baum in dem sie genächtigt hat. In der Dunkelheit hatte sie nur sein helles Blätterdach erkennen können, doch nun sah sie, dass der gesamte Baum einen elfenbeinfarbenden Ton aufwies.
Mit seinen langen herabhängenden Äste erinnerte er Kagome an eine Trauerweide.
Immernoch schniefend holte sie ihre Habseligkeiten aus der kleinen Höhle, trat erneut ein paar Schritte zurück und blickte an dem Baum empor.
Dank der Vögel - oder welches Getier auch immer darin lebte - hatten sich im höchsten Gipfel die Samenkörner einer anderen Pflanze festgesetzt und überwucherten ihn nun von oben bis unten. Die königsblauen Kelche der Pflanze verliehen dem Baum zusätzlich ein exotisches Aussehen.
Ihr Blick wanderte den in sich verschlungenen Stamm hinunter und blieben schließlich an einer Gicht aus roten Beeren hängen.
Plötzlich jedoch beschlich sie eisernes Unbehagen. Die Beeren waren hart und grün, als sie kurz nach Mitternacht in ihr Versteck gekrochen war. Jetzt sahen sie rot und weich aus - als wären sie über Nacht gereift.
Das und ihre stark kribbelnden Füße beunruhigte sie zutiefst. Es sah ganz danach aus, als sei Zeit vergangen, viel Zeit.

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