Am seidenen Faden

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Die Nacht tauchte den Wald in tiefste Dunkelheit, die sich wie ein bleierndes Tuch über die Langschaft legte.
Eine kleine Faust krallte sich tief in den seidigen Stoff seiner Hose, der ein silbriges Licht auszustrahlen schien.
Der Herr dieser Wälder schritt erhabenen Schrittes voran, spähte um einen dicken Baum und schaute den Pfad hinab. Ein Mensch hätte in dieser Dunkelheit nichts erkennen können, doch für ihn war das sanfte Mondlicht wie Sonnenschein, der zwischen den Baumkronen hindurchfiel.
Scharf und deutlich nahm sein kühler Blick jede noch so kleine Einzelheit war.
Für einen Mann aus einer starken Blutlinie reinrassiger Daiyokai war das kein Problem. Eine hochempfindliche Nase, spitz zulaufende Ohren, die jedes winzigste Geräusche wahrnehmen, und erstklassigen Augen waren sein steter Begleiter.
Das kleine Menschenmädchen an seiner Seite sah jedoch nicht annähernd so gut wie der Lord. Sie presste sich an seine Seite wie ein blinder Bettler und griff bei jedem leisesten Geräusch noch fester zu.
Und der Mond wies ihnen entschlossen in seiner zierlichen Sichelform den Weg in Richtung Lager.
Eben diese fand sich auch auf der Stirn Sesshomarus wieder.
Er hatte den blauen Sichelmond von seiner Mutter geerbt, genau wie die zwei magentafarbenen Streifen an jeder Wange, sie seine hohen Wangenknochen zur Geltung brachten.
Der holprige Wildpfad war nur leicht ausgetreten und an manchen Stellen von Bodendeckern überwuchert.
Der zähe Nebel, der Rins Füße zunehmend zu verschlucken schien, machte ihr sichtlich Angst.
Zögernd suchte ihr Blick den Sesshomarus, als wolle sie sich versichern, dass er wirklich da und der Stoff unter ihren Fingernägeln keine Illusion war.
"Rin." der ruhige Klang seiner basstiefen Stimme ließ sie entspannen. "Was ist los?"
Verlegen schaute sie auf ihre rechte Hand und versuchte sie etwas zu entkrampfen. "Ich hatte mich nur gefragt, wann wir da sind, Sesshomaru-sama."
Die Erschöpfung in ihrer Stimme war unüberhörbar.
"Bald." war die schlichte Antwort des Silberhaarigen.
Lächelnd sah Rin zu ihm hoch. Wenn er da war konnte ihr nichts passieren, er würde sie beschützen.
Sesshomaru sah kurz zu ihr hinab und richtete dann sein Augenmerk wieder auf den Weg vor ihm.
Der Körper des kleinen Menschenmädchens war einfach nicht ausdauernd genug, um solch längere Strecken durchzuhalten.
Deshalb hatte er ja auch Ah-Uhn mitgenommen. Er würde Jaken einen Kopf kürzer machen, wenn er so töricht sein sollte, ohne den Reitdrachen wieder im Lager aufzukreuzen.
Wenige Minuten später erreichten sie eine weitläufige Lichtung.

~

Am Rande der Lichtung stand eine kleine Gruppe hoher Fichten, die sich dem Druck des stetig wehenden Nordwindes beugte und dadurch eine leichte Krümmung aufwies, sodass ihre Äste in Richtung Boden verliefen, während ihr Blätterdach vor Wind und Wetter schützte.
Unter diesen Fichten saß Ah-Uhn, dieser hinterhältige Drache, der doch tatsächlich die Frechheit besaß, seine wohldurchdachte Standpauke einfach zu überhören.
Wie viele Nerven es ihn, den großen Jaken-sama, gekostet diesen fetten Dummkopf ausfindig zu machen!
Ha! Zu viele!
Dieses elendige Rindvieh hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit besessen sich ohne seine Erlaubnis von seinem Schlafplatz zu erheben und einfach wegzufliegen!
Und dann musste er ihm auch noch folgen, jawohl! Eine Zumutung war das!
Er, als treuster Begleiter von  Sesshomaru-sama sollte sich nicht mit Dreistigkeiten eines launischen Kleinhirns beschäftigen müssen!
Träge hob Ah-Uhn ein schweres Augenlid. Die Standpauke des kleinen grünen Gnoms schien ihn alles andere als zu interessieren.
Es war vielmehr der Wind, der einen Duft herantrug, der das Gezetere des Grünlings wohl schon bald unterbrechen würde.
"... höre mir gefälligst zu wenn ich mit dir rede du Spatzenhirn!"
Wütend fuchtelte Jaken mit seinem Kopfstab vor Ah-Uhns Kopf hin und her.
"Ich bekomme hier den Ärger weil du dämliches Vieh einfach entschieden hast wegzufliegen!" wetterte er weiter.
"Was wird wohl Sesshomaru-sama sagen, wenn er herausfindet das ich Rin verloren habe?"
Ein dramatisches Aufstöhnen seitens des Gnoms ließ den Reitdrachen amüsiert schnauben.
Giftig fixierte Jaken den Größeren.
Jaha sehr lustig.
Wie konnte er es übersehen?
Die Stille hätte mich stutzig werden lassen müssen! Oh ooh, hoffentlich kommt Rin zurück, bevor-
"Jaken!" donnerte es über die Lichtung.
"Ha-Hai!" einem Hechtsprung gleich warf sich der Krötenyokai auf den Boden und wälzte sich demütig im Dreck.
"Vergebt mir, Sesshomaru, Meister! Ich habe es nicht verdient weiterzuleben! Doch bitte erweist mir eure Gnädigkeit und verschont mich! Es soll nie wieder vorkommen, das schwöre ich!" jaulte er.
Er konnte den Hauch des Todes in seinem Nacken spüren, als sich Sesshomarus Blick auf ihn heftete.
Eine Gänsehaut überzog seine grüne ledrige Haut, und er wagte es nicht dem Lord auch nur anzusehen.
Leise rauschend wehte das Blätterdach in einer aufkommenden Herbstbrise.
"Es wird nie wieder vorkommen." eiskalt durchschnitt die Stimme des Lords die Stille auf der Lichtung.
Interessiert beobachtete Rin das Geschehen, und auch Ah-Uhns Blick wanderte aufmerksam vom Lord des Westens zu seinem Diener.
Schweißperlen rannten von Jakens Stirn hinab zu seinem kleinen grünen Kinn, um durch die Schwerkraft zum Boden zu finden.
Platsch.
Während sich schon eine kleine Pfütze gebildet hatte, begann Jaken bereits sich mit dem Gedanken abzufinden, gleich das Zeitliche zu segnen. Lautlos wie ein Schatten rückte ein rabenschwarzes Paar Schuhe in sein Blickfeld.
Unterwürfig presste er seinen kleinen grünen Schädel an den Boden, als wolle er in ihm versinken.
"Jaken."
"J-ja M-m-meister?"
Das wars! Ich bin doch viel zu jung zum sterben! heulte er in Gedanken und sprach ein letztes Gebet.

"Hol Feuerholz."

Überrascht riss Jaken seine gelben Glubschaugen auf.
"...was? Oh ja! Sofort! Meister Sesshomaru-sama! Ihr seit zu gütig!"
unter hastigen Verbeugungen nahm der kleine Krötenyokai schleunigst die kurzen Beine in die Hand und flog schon fast in Richtung Wald.
Innerhalb kürzester Zeit brannte das Feuer.
Ah-Uhn hatte sich bereits erhoben und war treu in Richtung Rin getrottet, um sich neben ihr niederzulassen. Die Kleine hatte sich derweil erschöpft auf den Hintern plumsen lassen und sich müde die Augen gerieben.
Ein kurzer Blick seitens Sesshomarus genügte ihm, um zu wissen, dass er etwas falsch gemacht hatte.
Schuldbewusst zog er die Köpfe ein. Rin rutschte schon halb schlafend zu dem Zweiköpfigen Drachen heran und kuschelte sich an seinen warmen Bauch während Jaken vor dem Feuer hockte. Kurze Zeit später vernahm Sesshomaru die gleichmäßigen Atemzüge seiner drei Begleiter.
Er würde sie ins Schloss des Westens schicken. Totosai, ein alter Yokaiwaffenschmied und guter Freund seines Vaters, hauste am Rande eines aktiven Vulkans.
Die Hitze zog den feuerspuckenden Greis offenbar an wie Licht die Motten.
Gemächlichen Schrittes schritt er zu einem großen Baum und ließ sich am Stamm nieder. Von hier aus hatte er einen sehr guten Blick über das gesamte Lager und auch die Windrichtung war perfekt. Wenn der Wind sich also nicht drehen würde, wäre niemand in der Lage seiner Nase zu entkommen.
Ein leichter Harzduft lag in der kalten Luft, als Sesshomaru seinen Blick in Richtung Osten lenkte und sein Ziel mit ausdruckslosem Gesicht fixierte.
Die Vulkan-Kette der östlichen Ländereien.

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