Tränen der Verzweiflung

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Wild entschlossen marschierte eine junge Frau in Richtung Norden. Ihr mitternachtsschwarzes Haar bauschte sich unter einem kurzen frostigen Windstoß auf. Vor kurzer Zeit noch wäre sie zusammengefahren, ob der Eiseskälte. Nun aber hatte sich die personifizierte Kälte selbst in den Abgründen ihres Herzens verankert und betäubte ihre Gefühle.
Seit sie begriffen hatte, dass InuYasha entgültig und unwiderruflich von ihr gegangen war, fühlte sie sich leer.
Als hätte er ihre Innereien herausgerissen und mit ins Jenseits genommen. Vielleicht ergötzte er sich von dort nun an dem Leid, das er ihr zugefügt hat. Verstimmt zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. Rückblickend hatte sie sich verhalten, als ob sie inmitten eines pubertären Übergangsphänomens gesteckt hätte.
Beschämt verzog sie den Mund.
Einmal ließ er mich an sich ran, ein andern Mal wiederum nicht. Warum ist mir erst jetzt klar geworden, wie sehr er mit meinen Gefühlen gespielt hat?
Das Wetter schien ihre Stimmung spiegeln zu wollen; dunkle Wolkenmassen bauten sich zu einer endlos hohen Mauer auf und versperrten die Sicht auf die wärmende Sonne.
Hauptsache abgesichert! Wenns mit der Kopie nicht geklappt hat, dann wurde ebend das weniger lebendige Original vorgezogen.
Schnaubend ging sie weiter.
Kikyou hatte sie immer als Kopie ihrer selbst bezeichnet. Das seine heilige Kikyou aber einen Teil ihrer Seele verwendet hat um wieder aufzuerstehen war ja völlig uninteressant!
Seufzend beruhigte sie ihre Gedanken und atmete die kalte Herbstlust tief ein und aus.
Lass die Toten ruhen, Kagome.
Bald würde sie wieder da sein wo sie hingehörte.

~

Der Sonnenaufgang am nächsten Morgen bot ein prachtvolles Feuerwehr aus schillerndem rot und gelb. Die Luft war frisch, klar und eisig kalt.
Der Herr der westlichen Ländereien schritt elegant an den eisbedeckten Ufern eines Flusses entlang.
Sein Weg führte ihn auf einen nassen Felsvorsprung, an dem der Fluss vorbeirauschte, ehe er über moosbewachsene Klippen in die Tiefe stürzte.
Die östliche Teil des Landes lag vor ihm wie eine aufgerollte Landkarte;
der Fuß des Wasserfalls, mehr als eine halbe Meile weiter unten, war der nördlichste Punkt des Tales.
Alleine war er wesentlich schneller unterwegs. Sesshomaru hatte es allerdings nicht sonderlich eilig, er genoss die Stille, misste weder Jakens Schleimattacken, noch sein nervtötendes Gezetere.
Ein ums andere Mal hatte er aufgrund seines vorschnellen grünen Mundwerks einen dicken Stein an den Kopf bekommen.
Natürlich nur wenn es wirklich nötig gewesen war.
Auf einmal schob sich ein anderes Bild vor sein inneres Auge: Rin, die ihm fröhlich lachend einen Blumenstrauß unter die Nase hielt, und ihn mit ihrem kindlich-frechen Grinsen einen Funken Wärme direkt ins Herz jagte.
Mit dem Gedanken an ihr Gesicht sprang er von dem Felsvorsprung und kam in irrsinniger Geschwindigkeit dem Erdboden immer näher.

~

Der Himmel hatte sich wieder geklärt, als Kagome einen steilen Abhang hinunterstolperte. Immer wieder verfing sich der mintgrüne Faltenrock ihrer Schuluniform in den dünnen Ästen der umliegenden Bäume.
Kurz darauf kam sie mit ein paar zusätzlichen Kratzern, die sie einem Dornenbusch und ihrer Tollpatschigkeit zu verdanken hatte, sicher unten an.
Überrascht sah sie sich um.
Tief hangen vereinzelte silbrig glänzende Wolken am Himmel, der nun aussah, als hätte man ihn mit einer Hand voll Wattebällen gespickt.
Die Landschaft, die sich vor ihr erstreckte, strahlte eine ruhige aber dennoch einsame Atmosphäre aus, die durch die einsetzenden Regentropfen unterstrichen wurde.
Ein letzter Blick in den weinenden Himmel, dann lenkte sie ihre Schritte schnell in Richtung Norden.
Sie sollte langsam aber sicher am kochenfressenden Brunnen angekommen sein.

~

Totosai saß vollgefuttert und mit dickem Bauch in seiner provisorischen Höhle. Dieser lavaspuckende Vulkan hatte eindeutig seine Vorzüge.
Nach diesem reichhaltigen Mahl würde seiner Gesundheit noch etwas Gutes tun, dann wäre sein Kurzurlaub perfekt.
Was für ein Festmahl!
Jetzt noch ein schönes heißes Bad-
er stockte in seinen Gedanken, als Mõ-Mõ laut muhte.
"Was ist denn jetzt schon wieder?" grummelte er verärgert und zog seine Brauen ahnungsvoll zusammen, als er eine dämonische Energie unweit seiner Behausung spürte.
Das Yoki näherte sich, wuchs und wuchs, und verriet ihm, dass er bald Besuch von einem beunruhigend mächtigen Yokai bekommen würde.
Mehr schlecht als recht hievte er sich schwerfällig auf seine krummen Beine. Dünne Rauchschwaden entströmten seinen Nasenlöchern, als der sich schnaubend in Richtung Eingang schleppte.
Eine verschwommene Gestalt umschritt derweil die noch teils flüssige Lava, die in kleinen Klecksen den Vulkan wie rot glühende Farbtupfer beleuchtete.
Ein ätzender Nebel kroch zäh über den unebenen Boden, der jegliche andere Lebensform von dieser trostlosen Landschaft fernhält.
Dunkle Gesteinsbrocken ragten vereinzelt aus dem Nebel wie Dolche, die ihre schwarzen Spitzen in Richtung Fuji reckten.

~

Skeptisch beäugte die junge Frau den von Grünzeug überwucherten Brunnen.
Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal hier war?
Missmutig schüttelte sie den Kopf. Es macht keinen Unterschied, wann oder mit wem sie das letzte Mal zwischen den Zeiten gewechselt war. Es war lediglich ein Teil ihrer zukünftigen Vergangenheit. Kurz musterte sie die Ranken. Die Hauptader der winterfesten Pflanze befand sich eine handbreite tiefer als der lichte Blätterteppich an sich, und machte mit einem Durchmesser von fast vier Centimetern einem Bodendecker alle Ehre. Auch wenn sie über das Pflanzenwachstum nur grundlegende Kenntnisse besaß, so kam es ihr doch merkwürdig vor, dass sich ein solches Gewächs in kürzester Zeit derart verbreitete.
Schulterzuckend packte sie die Wurzel und entwirrte das grüne Geflecht.

~

Nur noch... diese letzte... scheiss Wurzel!
Schnaufend besah sie sich ihre Finger. Feine Ströme lebendig roten Blutes trat aus ihren überkrusteten Handinnenflächen und erschwerten ihr das vorankommen. Immer wieder rutschte sie ab und fügte sich an den dornenbesetzten Ranken neue Schnitte zu.
Mit einem Ruck riss sie die letzte Sprossachse fort, warf einen letzten Blick in den Grund des Brunnens und schloss ihre Augen. Ein letztes Stoßgebet in den Himmel und sie sprang.

Unten angekommen, ballte sie ihrr Hände zu Fäusten.
Sie hatte es nicht gespürt.
Das warme Gefühl, dass sie jedes Mal umgab, wenn sie zwischen den Zeiten wechselte, das blaue Licht, dass ihren Körper schützend umhüllte und ihr das Gefühl von grenzenloser Freiheit gab.
Es war nicht da.
Der Himmel regnete erbarmungslos auf sie hinab, als sie aufstand. Sie wischte sich mit der freien linken Hand über die Augen und zog sich mit ihren dreckbeschmierten Händen einen hauchdünnen Streifen Erde über die Lider.
Ihre Augen waren frei von Emotionen, als sie ihren Blick in Richtung Himmel lenkte, der tröstend ihre stummen Tränen wegspülte und dennoch seltsam weit weg erschien.

~

Der Schmied beäugte seinen Besucht argwöhnisch. Er kannte den Bengel irgendwoher, so viel war sicher.
Doch woher? Es wollte ihm einfach nicht einfallen.
Mõ-Mõ schwitzte während dessen an jedem einzelnen Quadratzentimeter seines Körpers.

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