Kapitel 3 - Junger Offizier

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Rou und ich standen noch lange in der mondhellen Gasse. Wie lange weiß ich nicht. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, als Rous Herz erst schnell und panisch und dann nach und nach immer ruhiger und gleichmäßiger schlug. "Wir sollten weiter gehen" murmelte ich irgendwann und sah Rou ins Gesicht. Die Tränen waren verebbt. Ich wischte noch ein letztes Mal die Tränen mit meinem rotem Ärmel ab, wir sammelten die Früchte und die Getreidepäckchen ein und gingen durch die hell beschienenen Gassen heim. Und lachten. Über belanglose Dinge.

Die Nacht war schon dunkel und schwarz als wir unsere Häuser erreichten, die sich nebeneinander in dieses Elendsviertel kauerten. Ich stand vor meiner Tür, Rou vor ihrer, als wir uns ein letztes Mal umdrehten "Ich komme heute Abend. Für Zulon" sagte ich zaghaft um nicht gerade geflickte Wunden wieder aufzureißen. "Seinen Schmerz sollte man teilen" erwiderte Rou und lächelte tapfer. Sie hatte die Tür schon wieder hinter sich geschlossen als ich noch hinzufügte "Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen" Ich griff nach dem kleinen, goldenen Medaillon, sah ein letztes Mal den Mond an und ging hinein.

"Essen kann ein großes Geschenk sein" dachte ich zufrieden und gesättigt nachdem wir gegessen hatten. Ich beobachtete meine Familie wie sie sich weniger großen Sorgen als Hunger widmete. Lees Augen hatten erneut zu funkeln und glänzen zu begonnen, während sie ihre Puppen durch ein Beziehungsdrama manövrierte, meine Mutter hatte sich ihre grauen, wirren Haare zu einem schönen Zopf geflochten, wie sie ihn früher gerne trug und hat anschließend von dem Rest meines Preisgeldes mit impulsiver Stimme bei Händlern eingekauft,die Tag und Nacht auf Einnahmen hofften. Mein Vater bastelte munter pfeifend an einer Handprothese. Es war alles zu schön um wahr zu sein und wahrscheinlich nur von kurzer Dauer. Dann war das Geld weg und ich müsste mich von Baatu zusammenflicken lassen bei dem Versuch Neues zu beschaffen. Aber jetzt gerade flackerte das Licht fröhlich in seiner Öllampe und beleuchtete meine vom Herzen glückliche Familie.

"Ich werde kurz zu Rou gehen" verkündete ich nachdem ich dem munteren Treiben meiner Familie noch eine Weile zu gesehen hatte. Meine Mutter nickte mir lächelnd zu und ich verließ unser Haus. Ich wollte meinen Aufenthalt auf der Straße kurz halten und schlich deshalb leise und flink zu der Tür, vor der Rou vor Kurzem noch so tapfer ihre Tränen zurück gehalten hatte. Ich klopfte kurz, trat ein und schloss schnell die Tür hinter mir. "Guten Abend Jing" sagte Rous Mutter lächelnd. Sie saß in einem großem Sessel und erledigte Näharbeiten. Es war Zulons verbrannte Uniform. "Guten Abend" sagte ich und lächelte ebenfalls. Rous Vater musste in einem Nebenzimmer sein, denn ich konnte ihn nirgendwo entdecken. "Rou ist im Innenhof" sagte ihre Mutter, während sie schon konzentriert weiternähte. Ich hatte schon fast die Schiebetür zum kleinen Innenhof geöffnet als Rous Mutter noch einmal aufsah "Sie braucht dich jetzt wirklich" meinte sie nur. Ich konnte auch in ihren Augen Tränen glitzern sehen. Ich nickte und schob mich durch die schmale Öffnung, die ich aufgeschoben hatte.

Rou saß zusammengekauert im Innenhof und war vertieft in ihre Arbeit. Sie rollte einen Bogen Papier auf und lehnte ihn gegen einen Baum. Es war ein mit Tinte gezeichnetes Portrait von Zulon. Nun entflammte sie ein paar Räucherstäbchen mit ihren Fingerspitzen und steckte sie vor dem Bogen Papier in die dunkle Erde. Sie wickelte die dunkle Decke, die auf ihren Schultern ruhte fester um ihren Körper und begann leise zu singen.

"Sie fallen so sacht, die Blätter vom Baum,

fliegen in die dunkle Nacht, verblühen im Traum"

Ein schmerzvolles Aufheulen unterbrach das traditionellen Lied. Schnell durchschritt ich den Innenhof und kauerte mich eng neben Rou. Sie fing an weiter zu singen und ich stimmte ein.

"Komm junger Offizier, komm doch nach Haus.

Mutiger Offizier, komm doch nach Haus"

Zum zweiten Mal in dieser Nacht waren wir still und teilten unsere Trauer. Bis die Räucherstäbchen verglommen und die Decke zu dünn für die kalte Nacht wurde.


Jing's Reise - Buch Eins: LuftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt