Kapitel 2 Tag 2

32 3 0
                                    

           

3. Mai 2016 

„Finja", rief er, aber sie schien ihn nicht zu hören.

Erst als sie eine kleine Anhöhe erreicht hatten und sie erschöpft zu Boden sank, holte er sie ein. Ihr Atem ging stoßweise, ihr Brustkorb hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen. Sie weinte. Bei ihrem Anblick fühlte er sich hilflos, wusste nicht, was er machen sollte. Verlegen stand er neben ihr, blickte auf sie herab. 

„Beruhig dich", er setzte sich neben sie auf den kalten Waldboden. 

Mehr als diese zwei mickrigen Worte brachte er nicht zustande.

„Ich kann nicht", brachte sie atemlos hervor.

„Doch", antwortete er jetzt bestimmter und zeigte ihr Atemübungen, die Angelo ihm beigebracht hatte. 

Yoga und Meditation, zwei Dinge auf die Angelo schwor.  Vielleicht konnten sie auch Finja helfen. Sie versuchte zu lächeln, als sie aufgehört hatte zu  weinen, aber die verschmierte Schminke und die verheulten Augen machten es unecht. 

„Was war eben los?", er versuchte behutsam die richtigen Worte zu finden, aber er war sich nicht sicher, ob er sie gefunden hatte. Oder ob es sie überhaupt gab.

„Hat Chris dich geschickt?", fragte sie zurück.

Ihre Stimme zitterte. 

„Nein"

Sie nickte.

„Es ist nicht das erste Mal, das er so etwas macht. Unsere Beziehung geht den Bach runter."

Er fragte sie, warum. Die Antwort in seinem Kopf lautete eindeutig Chris. 

„Zu viel Alkohol, Drogen, er, ich mit meiner Musik", ihre Stimme wurde kalt, „Würde ich jetzt hier sitzen, wenn ich es wissen würde?"

Finja spielte Geige. Wobei sie spielte nicht, sie fühlte, sie lebte die Musik mit jedem Atemzug. Vielleicht sogar mehr als das. Er hatte sie noch nicht oft spielen hören, aber die Male, hatte ihn die Musik mitgerissen, obwohl es klassische Musik war. Es gab ein paar Videos von ihr auf Youtube, aber er hatte sie sich nie angeguckt, weil er Angst hatte, das es irgendwie die Atmosphäre zerstören würde. Den Bann brechen würde, in den er gezogen wurde, wenn sie spielte. 

Da seine Antwort ausblieb, redete sie weiter: „Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich kann doch nicht alles aufgeben nur wegen ihm. Ich kann nicht einfach ein Vorspiel oder eine Probe absagen, das geht einfach nicht, auch wenn er das gerne hätte. Es interessiert ihn nicht, wie es mir geht oder was ich mache. Es dreht sich alles immer nur um ihn. Wie toll er ist und welche Mädchen er haben könnte. Gott, wie ich das hasse. Wie ich ihn dafür hasse. Ich bin nur eine weitere, der er zuguckt, wie sie versucht ihn aus dem Block herauszukämpfen, obwohl er nicht raus will. Ich glaube, er genießt das, das er Macht hat über mich, über alles was ich tue und denke. Es tut so weh"

Als Block wurden zwei heruntergekommen Hochhäuser am Rande der Kleinstadt bezeichnet. Armut, Kriminalität, ein Leben in der Illegalität, der Block folgte seinen eigenen Regeln. Landete man einmal dort, kam man nicht mehr weg, vielleicht war das der Grund, warum Außenstehende die Gegend mieden. 

„Warum bist du dann noch mit ihm zusammen?"

Er wusste, dass das, was sie mit Chris hatte wahrscheinlich intensiver war, als alles was er je mit einem Mädchen gehabt hatte. Es waren nicht wenige gewesen. Aber er wusste von seinem großen Bruder auch, wie es war in einer Beziehung zu sein, die einem selbst schadete. Davon hatte Angelo genug gehabt.

„Weil ich ihn liebe"

Er  blickte sie skeptisch an, aber er spürte, das sie noch nicht bereit war, wirklich über ihre Gefühle zu sprechen. Sie würde Zeit brauchen und vielleicht den ein oder anderen Wodka, aber sie würde auch darüber noch reden, da war er sich sicher. Deshalb beließ er es darauf, ihr gut zuzureden und ihr zu sagen, das sie starkes Mädchen war, egal was zwischen ihr und Chris passierte. Er log sie nicht an, wie er es bei so vielen anderen Mädchen getan hätte, er meinte jedes seiner Worte ernst. 

Es war halb vier, als er sie nach Hause brachte, er hatte darauf bestanden sie zu begleiten. Finja wohnte in dem schicken Viertel der Kleinstadt. Teure Autos parkten vor noch teurern Häusern und Wohnung. Der Reichtum war allgegenwärtig und er fühlte sich ein kleinwenig fehl am Platz mit seinen verschlissenen Schuhen, die keine Markenschuhe waren und auch nicht mehr in dem Weiß strahlten, das sie wohl einmal hatten.

„Hier wohnst du also", stellte er fest, als sie vor einem einladend aussehenden Altbau stehen blieb. 

„Danke", sagte sie plötzlich.

Es klang so unschuldig und irgendwas zerbrach in ihm. Vielleicht die Überreste seiner eigenen Unschuld, die schon lange nicht mehr existierte. 

„Kein Ding", winkte er ab und rang sich dann doch noch zu einer Umarmung durch, „Sag mir Bescheid, wenn du wen zum Reden brauchst"

„Kann ich mich auch einfach so melden?", fragte sie und schloss die Eingangstür auf.

„Klar", antwortete er, aber die Tür war bereits ins Schloss gefallen.

Er zündete sich eine Zigarette an als er die hell beleuchtend Straße entlanglief, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. In seinem Kopf war nur mehr sie. Es machte ihn verrückt. 

Am Morgen wartete vor dem Schulter bereits Selin, Finjas Freundin auf ihn: „Wie geht es Finja?"

„Frag sie doch selbst", blaffte er sie an.

Sie fuhr unbeeindruckt fort: „Ihr Handy ist aus"

Sie fuchtelte ihm mit ihrem Iphone  vor dem Gesicht herum und er hätte es ihr am liebsten aus der Hand geschlagen.

„Es geht ihr gut", es war wahrscheinlich nicht die Wahrheit. 

Dann drehte er sich um und stieß dabei einen Erstklässler, der zu Boden fiel und sich lautstark beschwerte.

„Schnauze"

Finja kam nicht zum Unterricht und seine Laune wurde nur schlechter, als Chris zur dritten Stunde kam, die Augen rot vom Kiffen.

„Alles okay?", schrieb er ihr, als er wieder in seinem Bett lag und kurz vorm Einschlafen war.

FinjaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt