Kapitel 1 Tag 1

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  2. Mai 2016

Als er das modrig riechende Treppenhaus hinunterlief, war er bereits zu spät. Er hasste Unpünktlichkeit. Fluchend öffnete er sein Fahrradschloss, wobei er zweimal die falsche Zahlenkombination eingab. Draußen ging die Sonne unter, es war kalt für Anfang Mai. Fröstelnd trat er in die Pedale und sehnte sich bereits nach dem wärmenden Lagerfeuer am See.

Er nahm die Flasche Bier an, die ihm angeboten wurde und setzte sich zu seinen Freunden an das Feuer. Den Gesprächen konnte er aber kaum folgen, seine Gedanken schweiften immer wieder ab und er schreckte abrupt hoch, sobald jemand seinen Namen nannte.

Manchmal wünschte er sich, dass ihm die Ereignisse der letzten Monate egal sein konnten, er einfach morgens aufwachte und vergessen hatte, was passiert war. Er wünschte sich, dass alles wieder wie früher war.

Es war ein Motorrad, das ihn erneut aus seinen Gedanken riss. Kies spritze auf, es blieb mit quietschenden Reifen stehen und zwei Personen stiegen ab. Noch bevor sie die Helme abnahmen, wusste er, das Finja und Chris nachgekommen waren. Er konnte nicht verstehen, was sie an Chris fand. Die meisten Mädchen hatten Angst vor ihm. Vielleicht zog sie aber auch gerade seine kalte, aggressive Ausstrahlung an.

Chris schlug ihm auf die Schulter : „Was geht, Digga?"

Wieder einmal stellte er fest, das Chris nicht zu den Menschen gehörte, die Wert darauf legten wie sie sich artikulierten.
Zum Glück mischte sich aber sein bester Freund Alex in das Gespräch ein und so redeten sie eine Weile über Fußball, bevor Alex sich auf den Weg nach Hause machte, weil er am nächsten Tag wieder Training hatte und Chris sich mit Finja abseits an das Seeufer setzte.

Sein Handy vibrierte, sein großer Bruder hatte ihm ein Bild gesendet. Angelo hatte seinem Leben dem Rücken gekehrt, als zu Hause zum ersten Mal die Fetzen geflogen waren und war seit dem auf Weltreise.
„Amerika, Afrika, vielleicht auch Australien oder Asien", hatte er gesagt, „Mal sehen wo es mich so hin zieht"
Dann hatte sein Bruder ihn noch einmal umarmt, bevor ihn die Menschenmassen am Flughafen verschluckten.

Er vermisste ihn, auch wenn er das, wie so viel anderes verschwieg.

Genauso wie er verschwieg, das er keine Interesse an dem Mädchen hatte, dessen Namen er nicht wusste, aber das seit einer Viertelstunde seine Aufmerksamkeit wollte.

Die bekamen aber in diesem Moment wieder Finja und Chris, weil er sie anschrie und ihm offensichtlich egal war, das jeder dabei zuhören konnte. Weshalb sie stritten, hatte er nicht mitbekommen.

Bevor er hätte eingreifen können, schlug Chris zu. Mitten in ihr Gesicht.

Er hatte noch nicht ganz realisiert was eben passiert war, als Finja zum Lagerfeuer kam, ihre Sachen zusammenraffte und in den Wald lief.

„Soll ihr nicht wer nach?", fragte irgendwer besorgt.

Ohne zu zögern sprang er auf und sprintete los.

„Sag nachher Bescheid, ob alles okay ist", rief wer anderer ihm nach.

Er verkniff sich ein sarkastisches Lachen. Finja war jetzt wahrscheinlich alles andere als okay.  

FinjaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt