Kapitel 1

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Ich hatte schon mehrfach versucht, Menschen zu retten. Aber das half nicht. Die Menschen starben trotzdem. Genauer gesagt starben ihre Seelen. Die Menschen leben weiter, aber sie sind leblos. Ich weiß, es hört sich sinnlos an, aber so ist es. Es wurde so bestimmt, dass die Menschen an einem bestimmten Tag sterben. Und sogar ich kann ihnen nicht helfen. Mit meiner Hilfe geht es diesen Menschen noch schlechter. Kein einziger konnte später so leben wie davor. Ich frage mich, wozu ich diese Fähigkeit überhaupt brauche. Sie ist nutzlos! Sie ist zu überhaupt nichts gut! Und sie wird nie jemandem helfen. Nie.

Ich ließ Helene allein in ihrer Wohnung. Ich stieg die Treppe hoch und hörte ihr Weinen.
„Es tut mir leid.“, flüsterte ich.
Ich weinte auch. Helene war eine Freundin, die ich sehr gut kannte. Sie war vier Jahre jünger als ich. Ich fühlte mich wie eine große Schwester ihr gegenüber. Und ich musste sie im Stich lassen. Würde ich das wirklich tun? Das tat ich schon jetzt. Nein, ich durfte nicht umkehren! Nein. Ich durfte ihr nicht helfen. Nein...
Ich öffnete die Tür zu meiner Wohnung, schloss sie hinter mir zu und sank an der Tür entlang zu Boden. Wieso war niemand zu Hause, wenn ich jemanden so dringend brauchte?
Plötzlich klingelte unser Haustelefon.
„Ja?“ Ich versuchte, meine Stimme zu kontrollieren.
„Anna?“, meldete sich meine Oma.
„Ja.“
„Weinst du?“
„Ja.“
„Warum?“
„Helene wird sterben.“
„Deine Freundin vom 3. Stock?“
„Ja.“
„Und warum bist du dann jetzt zu Hause?“, wunderte sie sich.
„Ich kann ihr nicht helfen. Ich darf nicht.“
„Meinst du?“
„Ja. Ich hatte das schon mehrmals durchgemacht.“
„Ach ja? Meine Mutter hatte vielen Menschen geholfen. Wann wird Helene sterben?“
Aus meinen Augen quollen wieder Tränen, doch ich konzentrierte mich auf das Gefühl.
„Bald. Ihr Bruder ist schon zu Hause... Er schlägt sie.“
„Meine Güte! Sie wird durch ihren Bruder sterben?! Das arme Mädchen. Anna, du musst ihr helfen!“
„Ich darf nicht! Ich kann ihre Seele nicht retten.“
„Doch! Natürlich kannst du das. Du musst das tun! Glaube mir. Bitte. Du wirst sie retten. Und jetzt geh endlich runter!“ Sie legte auf.
Und ich... stand auf und verließ die Wohnung.
Ich stand vor ihrer Wohnung. Von dort kamen Schreie, Weinen und Krach. Ich atmete schwer durch und öffnete die Tür, welche spaltenbreit offen stand. Leise trat ich rein. Was ist, wenn er sie schon umgebracht hatte?
Das Weinen hörte auf. Sowie die eine Art Schreie. Die Mädchenstimme war weg. War Helene tot?
Ich sah den Mann. Er stand mit dem Rücken zu mir und trat mit den Beinen Helenes Leib. Sie lag bewusstlos – oder gar tot? – am Boden. Ihr Bruder war 18. Wenn er mich sehen würde, würde er mich auch umbringen? Das war mir egal. Ich nahm eine Vase von der Kommode und schlug sie dem Mann ganz heftig auf den Kopf. Er fiel bewusstlos zu Boden und ich eilte auf Helen zu. Ich kniete vor ihr, Tränen liefen in Strömen über meine Wangen, und schüttelte ihren Körper.
„Helene. Helene, bitte, wach auf. Helene!“
Langsam öffneten sich ihre Augen. „Anna...“, keuchte sie „Es tut weh...“
Ich umarmte sie schnell. „Oh Helene, es tut mir leid. Entschuldige mich -“
Sie versuchte zu lächeln. „Alles okay. Ruf... den Arzt... Du... warst für... mich wie... eine Schwester.“
Ihre Augen schlossen sich wieder. Ich schüttelte sie. „Nein, nein, nein. Helene! Halt durch. Bitte, Helene...“
Ich sprang auf und wählte die Nummer des Krankenhauses. Als ich gerade den Hörer weglegen wollte, hörte ich einen Ruf.
„Anna! Pass auf!“ Es war mein Bruder. Ihn konnte ich immer erkennen.
Ich drehte mich um. Sah, wie Helenes Bruder zu Boden sank, und sah hinter ihm Cris mit zerbrochener Glasflasche in den Händen stehen, schweratmend und mit erschrockener Miene. Meine Starre endete, ich lief auf meinen Bruder zu und wir umarmten uns.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte er.
„Ich weiß nicht. Helene...“
Cris ließ mich vorsichtig los und ging zu dem Mädchen. Er kniete vor ihr und nahm sie auf die Arme. Mit ihr setzte er sich auf das Sofa und streichelte ihr die Haare aus dem Gesicht. „Die Arme. Hast du die Polizei gerufen?“
„Den Krankenwagen.“
„Du weißt, was passiert ist, stimmt's?“
„Er hat sie geschlagen. Er hat sie immer geschlagen.“
„Tobias?“
„Ja, ihr Bruder. Ist sie...“
Ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen, da mich Cris unterbrach.
„Nein! Nein, Gott sei dank nicht.“
Ich setzte mich auf den Boden und fing an zu weinen.

Ich hatte den halben Tag im Krankenhaus verbracht. Erst dann kam Helene zu sich. Ich saß neben ihrem Bett. Sie sah mich und fing an zu weinen. Ich umarmte sie.
„Danke.“, flüsterte sie. „Danke, dass du zurückgekommen bist. Danke, dass du mich gerettet hast.“
„Nein, ich bin gegangen. Ich habe dich ihm überlassen. Es tut mir so leid.“, flüsterte ich.
„Das muss es nicht. Du hast mir das Leben gerettet.“
Und diesmal auch die Seele. Ja, ihre Seele war nicht gestorben. Ich hatte es geschafft. Oma hatte recht. Manche Seelen konnte man wirklich retten.
„Wie geht es dir? Ich weiß, eine blöde Frage-“, fragte ich meine Freundin.
„Es geht mir gut. Zumindest besser als tot zu sein.“, lächelte sie.
„Gut. Gut, dass du schon scherzen kannst.“
„Was ist mit Tobias?“
„Er wird dir nichts mehr antun können.“
„Ist er im Gefängnis?“
„Nein. Noch nicht. Er ist hier, im Krankenhaus. Er hat was zweimal auf den Kopf gekriegt.“
„Hat er dir wehgetan?“
„Nein. Dazu war es nicht gekommen.“
„Bleibst du noch hier?“, bat Helene.
„Ja.“, nickte ich.
„Wo sind Mama und Papa?“
„Sie sprechen mit dem Arzt. Sie kommen bald.“
„Gut. Aber geh nicht weg.“

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