Kapitel 5

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Als Nächstes teilte uns Andy in Partner auf, mein war Ely. Andy meinte, wir hätten ähnliche Fähigkeiten und könnten uns gegenseitig gut helfen. Ely, wie ich es später erfuhr, war kurz vor mir eingestiegen.
„Wie lange bist du schon hier?“, fragte ich.
„Drei Monate lang. Ich komme aus Spanien.“
Hätte ich nicht gesagt. Ely hatte zwar dunklere Haut, aber sie hätte ruhig aus Deutschland kommen können. Sie hatte kurze, schwarz-braune Haare und dunkelbraune Augen. Und trotzdem sah sie nicht wie eine Spanierin aus. Deshalb sah ich sie überrascht an.
„Wirklich.“, lächelte sie. “Vor drei Monaten habe ich noch in Spanien gelebt.“
„Und die Sprache?“
„Meine Mutter wollte, dass ich Deutsch lerne, damit wir - oder ich - hierher umziehen könnten, so wie unsere Verwandten. Sie selbst kann auch ein bisschen Deutsch sprechen.“
Ely müsste einen Akzent haben. Den hörte ich aber nicht heraus.
„Ich wollte, so wie du, nicht hier hin. Aber ich wusste, dass ich musste.“, erzählte sie.
„Warum?“, wollte ich wissen.
„Meine Visionen... Sie waren nicht besonders angenehm. Sie waren furchterregend. Und manchmal sind sie es immer noch.“
Die Arme. Aber mir ging's nicht besser.
„Also Anna, lass uns anfangen. Andy mag es, wenn wir arbeiten.“
Ich wusste nicht, wie man so etwas, was Ely und ich haben, trainieren konnte, weshalb ich meiner Partnerin einfach zuhörte und das machte, was sie verlangte. Das versuchte ich zumindest.
„Wir schließen jetzt die Augen.“, fing Ely ruhig an. „Dann entspannen wir unsere Körper. Und jetzt sage mir, was du siehst.“
Das klang witzig. Wie sollte ich etwas mit geschlossenen Augen sehen?
„Nichts.“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Mensch Anna, vergiss die Wirklichkeit! Verlasse dich auf dein Gefühl, auf deinen sechsten Sinn.“
Na gut, nehmen wir mal die Sache ernster an. Ich atmete langsam durch, konzentrierte mich.
„Was siehst du?“, fragte Ely erneut.
Ich zuckte die Schultern. „Immer noch nichts.“
„Okay...“, zog sie das Wort unzufrieden in die Länge. “Was fühlst du?“
Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, denn im Raum war es richtig laut geworden.
„Viel.“, entgegnete ich. “Es gibt vieles, was ich fühlen kann.“
„Eh...“, sie überlegte. “Stelle dir Andy vor.“
Noch mehrere Minuten lauschte ich auf meine Gefühle.
„Wärme. Angenehme Wärme.“, antwortete ich schließlich.
„Beschreib mal.“, forderte sie mich auf.
„Stell dir vor, es ist Winter. Und es ist kalt draußen. Aber du sitzt vor einem Kamin, in eine Decke gehüllt, in den Händen heiße Tasse Tee, und neben dir sitzt ein dir wichtiger Mensch. Oder eine Katze. Schön, oder? Und genau so fühlt sich diese Wärme an.“
Erst jetzt merkte ich, wie still es geworden war. Ich öffnete die Augen., alle sahen mich an. Sie waren am Überlegen. Manche sahen ganz traurig drein. Nur Andy und Ely lächelten. Bei Ely aber war das Lächeln auch traurig.
„Was ist?“, wunderte ich mich.
„Du hast das Wort.“, sagte Andy an Ely gewandt.
„Anna, ich gratuliere.“ Sie blickte hoch zu Andy. „Ich kann das nicht erklären. Sag lieber du.“
„Du hast erfolgreich mein Leben beschrieben. Du hast gesagt, dass es meiner Seele gut geht. Du warst gerade in meiner Seele.“, erklärte dieser.
Ich sah ihn fragend an. Ich war in seiner Seele? Das geht doch nicht.
„Ja, Anna, ich sage doch, du kannst das. Aber nicht alle Besuche werden schön sein, merk es dir. Ely, gut zugehört. Jetzt alle weitermachen.“
„Andy.“, rief ich und er sah mich wieder an. „Wenn ich den Tod eines Menschen sehe, bin ich dann auch in seiner Seele?“
„Nein. Du verbindest dich nur mit ihr.“
Interessant, interessant. Andy starrte wieder seinen Tisch an.
„Was macht er?“, flüsterte ich Ely zu.
„Er ist jetzt in einer anderen Wirklichkeit. So trainiert er seine Fähigkeiten. Aber wenn bei uns etwas passieren sollte, wird er augenblicklich wieder hier sein.“
Sie schloss die Augen. Ich dachte daran, was sie mich gefragt hatte.
„Ely, was siehst du?“
„Noch nichts.“, antwortete sie lachend. “Erstmal, was willst du wissen?“
Ich überlegte mir eine einfache Aufgabe. „Ich habe einen Bruder. Cristian. Wie sieht er aus?“
„Das ist leicht. Zuerst, er ist 22 Jahre alt. Oder 21?“
„22.“
„Gut. Er hat die gleiche Frisur wie Toni - Undercut. Deine Haarfarbe - braun bis kupferbraun. Schöne, dunkelbraune Augen. Und er mag Sport treiben.“
„Ja, das ist sein Hobby.“, stimmte ich zu. Alle Informationen, die Ely genannt hatte, waren richtig.
Sie öffnete ein Auge. „Etwas schwerere Aufgabe bitte.“
„Kannst du auf die Vergangenheit zurückgreifen.“, vergewisserte ich mich.
„Ja.“, nickte sie und schloss das Auge.
„Von unbekannten Leuten?“
„Ja.“
„Was war mit meinem Opa passiert? Warum starb er?“
„Ich dachte, du weißt es.“
„Du aber nicht.“, entgegnete ich.
„Eine unschöne Frage.“, murmelte sie.
Eine Weile passierte nichts, doch dann erzitterte Ely. Musste das so sein? Ich glaube, nicht. Ely erzitterte nochmal.
„Leute? Mit Ely stimmt etwas nicht.“, rief ich unsicher.
Alle eilten näher. Andy fasste Ely an den Schultern. „Elianor, komm zu uns, komm zurück.“
„Was hast du gefragt?“, wollte Iris von mir wissen.
„Wie mein Opa starb.“, antwortete ich verängstigt.
„Andy, warum ist die Aufgabe misslungen?“
„Das ist sie nicht. Sie hat eine Vision.“, erklärte dieser.
Jemand griff um meinen Oberarm und zog mich zur Seite. Als ich nach rechts blickte, fand ich Jo neben mir.
“Keine Angst, Ely hatte das schon.“, versuchte er, mich zu beruhigen.
“Du bist an der Vision nicht schuld.“, fügte Mat hinzu, der zu meiner Linken trat.
„Ely, was siehst du?“, fragte Toni, der mittlerweile neben ihr kniete. „Hörst du mich? Was siehst du?“
„Sie wird dir nicht antworten.“, meinte Iris.
„Doch, natürlich wird sie das. Das letzte Mal hatte sie mir auch geantwortet. Ely, was siehst du?“
Hm, Iris und Toni mögen sich wohl nicht besonders.
„Polizei.“, murmelte Ely und erzitterte immer wieder. „Anna. Jo. Eine Bank. Schreie. Zwei Schüsse. Viele Menschen.“
Was, was, was? Ich, Jo, Schüsse, Polizei? Ich? Nein... Das brauche ich nicht!
„Wann wird das passieren?“, wollte Toni wissen.
Ich glaube, er und Ely hatten einen besonderen Kontakt.
„Es ist hell. Pfützen.“, antwortete diese.
„Datum. Finde etwas, wo es steht. In der Bank oder im Café. Wir brauchen das Datum. Strenge dich an.“
„Haben die beiden irgendwelchen besonderen Kontakt?“, fragte ich die Jungs neben mir.
„Toni trainiert Ely.“, erzählte Mat.
„Er hat gesagt, er hatte am Anfang auch Probleme mit seinen Fähigkeiten, so wie Ely. Und von Anfang an hatten sie eine... ich nenne das mal Beziehung. Aber sie sind kein Paar, wenn du es so verstanden haben solltest.“, erklärte Jo.
Also doch besonderer Kontakt.
„20. Oktober.“, stieß Ely plötzlich aus.
„In zwei Wochen.“, überlegte Andy und hob dann den Kopf hoch. „Toni, Iris, tretet zwei Schritte zurück. Ely, komm zurück. Du hast da nicht zu suchen. Du musst zurück. Elianor. Hörst du mich? Komm zurück.“
Sie erzitterte abermals, aber diesmal war es heftiger. Dann fiel sie einfach um, doch Andy schaffte es, sie aufzufangen. „Sie lernt nichts dazu. Ich habe ihr schon tausendmal gesagt, sie soll weniger Energie verbrauchen.“, meckerte er. „Anton, du musst das mit ihr öfter üben.“ Andy verließ den Raum. Er war bestimmt nach oben gegangen.
Arme, arme Ely.
Wir setzten uns zurück auf unsere Plätze, sodass nur Mat keinen Gegenüber hatte.
„Jo, Anna, habt ihr sie gehört?“, fragte Iris streng. „Ihr werdet da sein.“
„Theoretisch können wir das doch verhindern, oder?“, meinte ich.
„Das dürfen wir nicht. Sonst werden Menschen sterben.“, widersprach Jo.
„Ihr werdet uns einfach anrufen und wir werden helfen.“, schlug Toni vor. “Oder ihr kommt zu zweit zurecht.“

Ely war erst in einer Stunde runter gekommen. Übrigens meinte sie später, ihre Familie sei sehr arm. Sie, ihre Eltern und vier Geschwister hatten fast auf der Straße gelebt. Deshalb wollte ihre Mutter, dass sie nach Deutschland umziehen. Darum war Ely bei Andy eingestiegen und darum hatte sie Deutsch lernen müssen.
Als Andy wieder zu uns kam, meinte er, dass wir ab jetzt für den Tag, von dem Ely gesprochen hatte, trainieren würden. Tja, offensichtlich fiel meine Probewoche weg. Oder doch nicht? Mal sehen. Alle blieben in dem gleichen Raum. Außer mir und Andy. Er wollte mit mit irgendwie anders trainieren. Der neue Raum war sehr groß. Ein Kampfsaal, stellte ich fest, als ich mich umsah. Halt. Ein Kampfsaal? Oh mein Gott.
„Anna, du kannst Gefahren spüren.“, stellte der Mann klar.
„Nein, das kann ich nicht.“, widersprach ich.
„Okay, noch nicht. Aber bald. Dafür werde ich sorgen.“
Der Gedanke, dass wir in einem Kampfsaal waren, ließ den anderen Gedanken kein Platz.
„Werden wir kämpfen?“, stellte ich die blöde Frage.
„Du nicht.“, schüttelte Andy jedoch den Kopf. “Weißt du, dass ich auch gefährlich sein kann?“
Andy – gefährlich? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Gut, das konnte ich zu dem Moment nicht. Jetzt schon. Ich schüttelte den Kopf.
„Du willst mich bedrohen?“, fragte ich misstrauisch.
„Nicht wirklich.“
„Was ist also die Aufgabe?“
„Ich verdecke dir die Augen mit einem Tuch und nehme einen Messer.“
„Was?! Wie soll ich mich dann bitteschön verteidigen?“, rief ich entsetzt.
„Vertraue deinem Gefühl. Und ich werde dich nicht verletzten.“
Ich trat einen Schritt zurück. „Nein, nein. Ich spiele trotzdem nicht mit.“
Er zuckte die Schultern. „Du musst.“
Aus seiner Jackentasche zog Andy ein schwarzes Tuch heraus. Toll, jetzt konnte ich mich auf meine Augen nicht mehr verlassen. Ich konnte Andys Schritte nicht mehr hören. Ich stand still und lauschte einfach, versuchte, ruhig zu bleiben.
„Auch wenn du mich nicht hören kannst, ich bin hier.“, ertönte Andys Stimme.
Etwas Kaltes glitt meinen Arm entlang. Das Messer. Aber es verletzte mich nicht. Gut, dass Andy sein Wort halten kann. Bestimmt hätte er mich verletzten können. Ich konzentrierte mich auf das Messer. Nutzlos. Immer wieder berührte mich das Messer. Öfter und öfter.
„Du bist schon zwanzig Mal tot. Worauf konzentrierst du dich?“, interessierte sich Andy.
„Auf das Messer.“, antwortete ich.
„Falsch. Daraus wird nichts. Eine Sache kann dir nichts antun, nur der Mensch kann das. Konzentriere dich auf mich. Versuche zu fühlen, was ich tue.“
Kluge Worte. Andy, wie er so ist. Also, Konzentration...Gehirn, mach schon! Und wieder das Messer.
„Andy, ich kann's nicht!“, rief ich verzweifelt.
„Doch.“, beharrte er dringend. “Du musst es nur lernen. Wo bin ich? Was fühlst du?“
„Du bist in meiner Nähe.“
Er lachte. „Das hätte jeder sagen können. Nimm die Sache ernster. Stell dir vor, ich bin ein Mörder. Ich bin gefährlich. Es ist Nacht. Niemand ist da...“
Das hörte sich etwas gruselig an. Zweiter Versuch. Kein Erfolg. Weiterer Versuch. Ebenfalls nichts. Und wieder und wieder. Schließlich berührte mich Andy an den Schultern und nahm das Tuch ab. „Okay, das reicht für heute.“
„Für heute? Für immer!“, bestreitet ich aufgeregt. “Ich kann das nicht.“
Andy hörte mir nicht zu. Wie unverschämt.
Wir gingen zu den anderen. Wir alle machten eine Essenspause. Dann verteilte Andy einfache Schulaufgaben. Für jeden seine Klassenstufe. Aber Iris und Toni machten nicht mit. Sie trainierten. Fünf Minuten gab es noch Streit bei den beiden und Andy. Er wollte, dass sie zusammenarbeiten, sie wollten das nicht. Andy hatte gewonnen.

Erst um acht kam ich nach Hause.

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